Der Michiler
Eine Hommage an einen Alleskönner.
Von Hans Schwarz
Meine erste Begegnung mit einem Doktor, an die ich mich erinnern kann, war eine Visite beim Michiler in St. Martin. Dieser Michiler, mit richtigem Namen Alois Pichler, auch Michile Luis genannt, war einer der bekanntesten Passeirer seinerzeit und gleichsam als Arzt ohne Studium und Titel weitum geschätzt. Mein Vater kannte den Luis sehr gut und hatte großes Vertrauen zu ihm und seiner Heilkunst. So begleitete er mich als Kind 1950 wegen eines Hautproblems nicht etwa zum Gemeindearzt Dr. Wallnöfer, sondern eben zum Michiler. Dieser wohnte im Außerdorf oberhalb der Dorfstraße im alten Festlhaus (heute Dorfstraße 19).
Ich erinnere mich noch, wie sich dieser alte freundliche Herr in seiner Stube meinen entzündeten Unterarm ansah. Er nahm eine Salbe aus einem Taatl (Schublade) und sagte zum Vater: A Woche lång jeedn Toog uënmåll schmirbm (einreiben). Dann unterhielten sich beide noch längere Zeit, bis der Vater ein paar Lire auf den Tisch legte und mit mir nach Hause ging.
Bei einem Gespräch im MuseumPasseier ging es vor einiger Zeit um Passeirer Persönlichkeiten, die kaum bekannt sind. Da fiel mir spontan der Michiler ein. Aber wo und wie könnte ich etwas über ihn erfahren? Er war ja schon 1954, also vor bald 70 Jahren, verstorben.
Ich hatte Glück. Die zwei Zeitzeugen Max Karlegger (Plåtzer Max, Sohn von Michilers Tochter Anna) und Oswald Egger-Karlegger (Schaiber Oswald, Ehemann von Michilers Enkelin Maria), beide Jahrgang 1929 und zur erweiterten Michile-Familie gehörend, konnten mir einiges über den Luis erzählen. Michilers Enkelin Rosa Pichler (Tochter seines Sohnes Luis) stellte mir wertvolle private und amtliche Dokumente und Fotos zur Verfügung. Tobias Egger-Karlegger, Jungbauer auf Brantleit, versorgte mich mit historischen Zeitungsartikeln und Fotos. Judith Schwarz stöberte in den Tauf-, Heirats- und Sterbebüchern und fand weiters musikalische Zeitzeugnisse und Aufnahmen. Von Harald Haller bekam ich wertvolle mündliche und schriftliche Infos und Hinweise zu den Michilern, u.a. Rezepte.
Der Michiler ist das letzte Glied einer Passeirer Bauerndoktor-Dynastie. Diese beginnt mit dem Ururgroßvater Matthias (Matthäus) Pichler, geboren am 01.09.1710. Er lebte in der Mörre und war mit Maria Mangger aus Gomion verheiratet. Matthias, auch als Mërrer Hiës erwähnt, war ein geschätzter Bauerndoktor, viele suchten bei ihm Hilfe für Vieh und Mensch. Laut Überlieferung soll er 1739 von einem unbekannten jungen Mann ein Marienbild gekauft haben. Wegen seiner Heilkunst und des Gnadenbildes kamen immer mehr Leute auf die Mörre, so dass der Hias 1750 eine kleine Marienkapelle baute, die zweimal erweitert wurde. Das heutige Kirchlein wurde 1848 errichtet.
Die Kunst des Heilens gab der Mërrer Hiës an seinen Sohn weiter. Benedikt Pichler, geboren 1752 und verheiratet mit Maria Heel, wiederum gab sie seinem Sohn Michael weiter. Dieser Michael Pichler, geboren 1782 auf der Mörre, war dreimal verheiratet. Über die zweite Frau Anna Oberprantacher wurde er Inhaber der Krämerei im Kurzerhäusl in St. Martin, also Krämer von Beruf. Im Meisterbrief vom 15. Juni 1818 wird vom Landgericht Passeier bestätigt, dass Michael die Schlosser- und Büchsenmacherkunst erlernt und zur Zufriedenheit des Publikums ausgeübt hat.
Mit Michael Pichler begann wohl die Familienbezeichnung Michiler. Bekannt ist die Michilepixe, ein Perkussionsgewehr, mit der Aufschrift „Hindurch in Jesu Namen ist der beste Anfang Amen“. Am Metallknauf der Mörrer Kirchentür sieht man heute noch die Initialen „18MP48“. Auf Gadenacker, einem vom Schildhof Buchenegg abgetrennten Hof, wurde Michael um 1835 Vormund des minderjährigen Erben Johann Hafner und erwarb das halbe Fischereirecht des Hofes. Er muss ein handwerklich geschickter Mensch, ein geschätzter Bauerndoktor und umgänglicher Zeitgenosse gewesen sein. Er starb 1850.
Auf Michael Pichler folgt Alois Pichler (1833–1908). Dieser scheint laut Kaufurkunde vom 12.10.1886 als Käufer des Schmiedhäusl zu Eis, das spätere Michile-Häusl, neben dem Eiserer Hof auf. In einem Schreiben der Gemeinden Schenna, Algund, Marling und St. Leonhard vom 04.04.1885 wird in einer für damals typischen Amtssprache bestätigt, dass Alois den Beruf des Büchsenmachers ausübt und als Bauerndoktor, dank seiner von Natur angeborenen und von seinem Vater und Großvater ererbten Kenntnisse in der ärztlichen Heilkunde, mehrere Personen von äußerlichen und innerlichen chronischen Leiden durch gute Ratschläge und mitunter Anwendung von “unschuldigen Hausmitteln” geheilt hat. Es wird betont, dass er für die körperlich leidende Menschheit nicht aus Eigennutz oder Gewinnsucht, sondern aus Mitleid wohltätig gewirkt hat. Auch die Zeitung „Der Burggräfler“ berichtet in der Ausgabe vom 14.03.1908 vom Todesfall des weit und breit bekannten Bauerndoktors Alois Pichler, vulgo Michile Luis.
Dessen gleichnamiger Sohn, unser Michiler, kam am 2. März 1870 zur Welt. Die Kindheit verbrachte er bei den Eltern Alois und Agatha Raffl im Michile-Häusl beim Eishof. Es ist anzunehmen, dass er sich schon in der Jugendzeit besonders für Tiere interessierte. Im Jahre 1900 erwarb er nach dreijähriger Lehrzeit beim Fleischhauer Johann Götsch in St. Martin das Lehrzeugnis „vorschriftsmäßig durch Fleiß und Arbeitsamkeit“. Oswald Egger-Karlegger weiß, dass er ein Jahr lang mit einem Tierarzt im Sarntal unterwegs gewesen sein soll. Auf einem Heimatschein von 1901 wird bestätigt, dass Alois Pichler, Thier-Arzt, in St. Martin das Heimatrecht besitzt. Auch in einem Protokoll des k.k. Gemeindeschießstandes von 1906 scheint er als gewählter Oberschützenmeister unter dem Namen Alois Pichler, Tierarzt auf. Luis muss demnach Ansehen und Ruf eines Tierarztes gehabt haben.
Eine große Passion hatte der Luis für das Schützenwesen. Der gerade erwähnte Gemeindeschießstand von St. Martin lag ihm besonders am Herzen. Als Oberschützenmeister organisierte er mit seinem Ausschuss größere Fest- und Freischießen. Erwähnenswert ist jenes im Herbst 1910 zu Ehren der Fürstin Metternich-Sandor, der Enkelin des ehemaligen Staatskanzlers; ein historisches Foto zeigt die Martiner Schießstandsvorstehung mit den von der Fürstin gestifteten Bestgaben.
Michile Luis war auch einer der Gründungsväter der 1924 neu gegründeten Schützengesellschaft für Passeier. Aus den Schützengesellschaften St. Leonhard, St. Martin, Platt, Moos und Rabenstein wurde per königlichem Dekret die „Società consorziale di Tiro a Segno Nazionale“ mit Sitz in St. Leonhard. Mit 30 Jahren heiratete er Christine Pfitscher aus Rabenstein. Acht Kinder entstammten dieser Ehe: die Söhne Luis, Sepp und Franz und die Töchter Anna, Rosa, Christine, Maria und Theresia.
Der Michiler als Familienvater.
Foto 1: In der vorderen Reihe die Töchter Anna, Rosa, Maria, Christine und Theresia sowie die Ehefrau Christine Pfitscher. In der hinteren Reihe stehend von links die Söhne Alois, Josef und Franz. Fotosammlung: Tobias Egger-Karlegger.
Foto 2: Die Familie Pichler am Brantleithof in St. Leonhard, um 1915. In der hinteren Reihe von links: Franz, Theresia, die Magd Maria Ploner (1898–1918, die Nichte von Christine Pfitscher, der Ehefrau vom Michiler), Anna und Alois Pichler. In der vorderen Reihe Christine, die Großmutter Anna Pöhl Wwe. Pfitscher (Schwiegermutter vom Michiler, 1839–1922), Rosa, Christine Pfitscher und Maria. Fotosammlung: Helga Holzknecht.
Foto 3: Der Michiler mit (vorne links) den Töchtern Rosa und Maria, sowie der Ehefrau Christine. In der hinteren Reihe von links die Kinder Anna, Alois, Franz, Christine und Josef (?). Das Foto stammt aus der Zeit um 1920. Fotosammlung: Helga Holzknecht.
Ein zentraler Punkt in Michilers erster Lebenshälfte war die Jagd. Sie muss eine echte Leidenschaft von ihm gewesen sein. Im Jagdpachtvertrag vom 19.11.1903 mit der k.k. Forst- und Domänen-Direktion in Innsbruck erwarb er für 13 Jahre das Recht der Ausübung der hohen und niederen Jagd auf dem hochalpinen Gebiet zwischen Wanserjoch und Hochalpspitz, insgesamt fast 300 ha Jagdgebiet. Spätestens jetzt kann man davon ausgehen, dass der Luis beim Umgang mit Behörden kein Problem hatte.
Mit dem Jagen war es vor Weihnachten 1912 dann plötzlich vorbei. Er und sein Begleiter hätten bei einem schrecklichen Jagdunfall in Pfistrad beinahe ihr Leben verloren. Der „Tiroler Volksbote“ vom 20.12.1912 berichtete: Der weitbekannte Tierarzt und Pächter zu Brantleit Alois Pichler ist in Vistrat auf der Gemsenjagd verunglückt. Während er saß und mit dem Fernrohr auf die Höhen schaute, rutschte ihm das Gewehr über die Füße hinab, entlud sich und der Schuß ging ihm mitten durch den obersten Teil des Oberschenkels. Hirten trugen den Schwerstverletzten nach Hause. Wenigstens das Blut konnte Luis selbst stillen.
Dës iberlepp er nit, sollen seine Angehörigen gesagt und seine Wunde mit Këssl foll Gramillntee gewaschen haben, weiß Oswald Egger-Karlegger zu erzählen. Der Gemeindearzt Diem verarztete den Michiler bestmöglich. Luis überlebte ohne Krankenhausaufenthalt und das ganze Tal freute sich darüber, stand im „Volksboten“. Sein rechtes Bein blieb allerdings 4 cm kürzer als das linke. Mit der Jagd im Hochgebirge war es natürlich vorbei, doch Hasen, Füchse, Rehe, Hühner und anderes Kleinwild mussten sich weiterhin vor ihm in Acht nehmen. Er isch a krumper iberåll hinkemmin unt nit lengsummer giweesn“, meint Oswald, der ihn später öfters begleitete.
Luis muss um die Jahrhundertwende geschäftlich recht umtriebig gewesen sein. So scheint er beispielsweise 1904 auf einer Rechnung mit eigenem Logo als Holzhändler auf. Er verkaufte einem Mailänder Händler Holz für 737 Kronen. Außergewöhnlich und manchmal riskant war seine Tätigkeit als Käufer, Verkäufer oder Ersteigerer von Höfen, Liegenschaften, Parzellen, Nutzungsrechten. Diese begann mit dem Kaufvertrag vom 5. März 1898, laut dem er von seinem Vater das Schmiedhäusl zu Eis gegenüber von St. Martin nebst Stadel, Stall und Garten um 1.000 Gulden kaufte. Ab 1915 erwarb er Liegenschaften in Fartleis, unter anderem Hühnerspiel, im Ausmaß von 388 ha. Diesen Besitz wird er später seinem Sohn Luis übergeben. 1916 kaufte er nach ein paar Jahren Pacht den Brantleithof in St. Leonhard.
Das nötige Kapital für seine Geschäfte verschaffte er sich durch Kredite und Holzschlägerungen im Brantleiter Wald. 1.000m³ sollen es einmal laut Oswald Egger-Karlegger gewesen sein. Es war ein riesiges Unterfangen, diese Menge Baumstämme mit allen weitum zur Verfügung stehenden Pferden zur Straße zu transportieren. Zudem sei – so die Erinnerungen von Oswald Egger-Karlegger – bis Josefitag kein Schnee gefallen, sodass die Baumstämme erst ab März auf die Straße gezogen werden konnten.
In diese Zeit fällt auch der tragische Tod seines Sohnes Sepp, für den Vater ein schwerer Schicksalsschlag. Durch Unvorsichtigkeit seitens einiger Ziegenhirten entwickelte sich im Brantleit- und Widumwald aus einem Lagerfeuer ein Waldbrand. Sepp, vorher schon gesundheitlich angeschlagen, starb 1921 20-jährig an Rauchvergiftung. Der Brand wurde übrigens erst nach zwölf Monaten endgültig gelöscht. 1937 verkaufte der Michiler den Hof seinem Schwiegersohn Martin Karlegger (Stiirschnaider Martl). 1928 hatte er den Schildhof Steinhaus ersteigert, 1936 aber wieder an das Ente di Rinascita per le Tre Venezie verkauft. Dann zog es ihn geschäftsmäßig ins Dorf St. Martin, er kaufte das Gasthaus Lamm und war mehrere Jahre lang “Mitterwirt”, bis er seine beiden Töchter Maria und Christine dort als Erbinnen einsetzte.
Der Michiler auf verschiedenen Porträtfotos. Fotosammlungen von: Helga Holzknecht (Foto 1, 3, 5), Rosa Pichler (2), Tobias Egger-Karlegger (4), Referat Volksmusik in der Landesdirektion Deutsche und ladinische Musikschule Bozen (6).
Das Militär spielte beim Michiler nur eine So-nebenbei-Rolle. 12 Jahre, von 1900 bis 1912, diente Luis beim Landesschützenregiment Bozen II „treu und ehrenhaft“ und beendete den Wehrdienst (eine Art Dienst auf Abruf im Kriegsfall) als Unterjäger. Seine Beinverletzung verhinderte die Einberufung im 1. Weltkrieg.
Handwerklich blieb der Luis in der Spur seiner Vorfahren: fleißig und geschickt. Das Büchsenmachen war bei den Michilern ja Tradition. Er spezialisierte sich auch auf das Herstellen von kunstvollen Messern (sogenannte Michile-Messer), Büchsenschäften und Messergriffen aus Reh- und Hirschgeweih. Wenn man ihn charakterisieren will, darf man seine Geselligkeit und Liebe zur Musik nicht vergessen. Er lernte das Geigenspiel beim Tallner Jörgl und bei Anton Raffl auf Tall und spielte in der alten Tallner Musikkapelle die Viola.
Der Michiler als Musikant. Im ersten Foto sitzend mit Basstuba (Fotoarchiv: Tobias Egger-Karlegger). Im zweiten Foto als Gründer, Namensgeber und Mitglied der Michile Muusig mit zwei Hahnfedern am Hut. Von links: Alois Schiefer, Alois Pichler, Leonhard Haller, Martin Schiefer, Josef Pichler, Ignaz Pfitscher (Fotoaufnahme anlässlich der Tonbandaufnahmen durch Alfred Quellmalz im Winter 1941/42 in St. Martin in Passeier, Quelle: Referat Volksmusik in der Landesdirektion Deutsche und ladinische Musikschule, Bozen).
Er komponierte sogar selber und gründete die Martiner Kapelle, auch als Michile-Muusig bekannt. Diese bestand aus dem Vorgeiger (Alois Pichler, Michile Luis), dem Violer (Alois Schiefer, Aiserer Luis), dem Sekundgeiger (Martin Schiefer, Aiserer Martl), zwei Begleitgeigern (Josef Pichler, Eggnstuëner und Leonhard Haller, Egger Liërnt) und dem Bassgeiger (Ignaz Pfitscher). Toll muss es geklungen und die Zuhörer*innen auf den Tanzboden getrieben haben, wenn diese Bauern Landler, Polka oder Boarische spielten, wie den Michile Walzer, den Fulfeser Landler, die Weihregger Polka, den Stuenriegler oder den Tallner Tramplan.
Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis des Referates Volksmusik in der Landesdirektion deutsche und ladinische Musikschule, Bozen.
Noch als 80-Jähriger schwang er mit ungebrochener Frische und seltener Geläufigkeit den Geigenbogen. So schrieb der „Volksbote“ vom 09.03.1950 anlässlich der großen Geburtstagsfeier zum 80sten. Luis war auch aktives Mitglied der Mårtiner Plechmuusig, er spielte das Helikon (Basstuba). Politisches Interesse war bei so viel Umgang mit Leuten in schweren Zeiten wie dem 1. Weltkrieg, dem Faschismus, dem 2. Weltkrieg und der Nachkriegszeit sicher reichlich vorhanden. Er war Mitglied des Gemeinderates von St. Leonhard, bis dieser 1926 von den Faschisten aufgelöst und durch einen Podestà ersetzt wurde. 1941 optierte der Michile Luis für das Deutsche Reich.
Wenn es ums Helfen ging, unterschied Luis nicht zwischen Freund und Feind, Optanten und Dableibern. Sogar Deserteure, die bei den Einheimischen Partisanen genannt wurden und einen schlechten Ruf hatten, konnten mit seiner uneigennützigen Hilfe rechnen, wie zum Beispiel der verletzte Deserteur Rudolf Schweigl (Sackler, geb.1925), der sich im Dezember 1944 in den Felswänden oberhalb des Steinwandterhofes im Kalmtal versteckt hielt.
Damit wären wir an dem Punkt, der den Michele Luis weitum so bekannt machte und auszeichnete: der Bauerndoktor mit seinem Wissen um die Krankheiten oder Verletzungen bei Tieren wie bei Menschen und deren Behandlung bzw. Heilung. Er kannte die Heilpflanzen und wusste, was in Natur und Apotheke zu beziehen und wofür heilsam war. Er beherrschte das Blutstillen und hatte Salben, Tinkturen, Extrakte, Pflaster und Pulver für die Behandlung von Brüchen, äußerlichen Wunden, Hautkrankheiten und Scherzen (Flechten), Wundbrand, Muskelschwund, Rheuma, Ischias, Magenleiden, Koliken, Kopfweh und anderen Leiden.
Am bekanntesten und vielfach anwendbar war seine gelbe und schwarze Michile-Salbe. Miër håt der Michiler a amåll wëign di Nerfn kholfn, verriet mir kürzlich die Holzer Anne (Anna Pichler, Jg. 1928) zufällig am Familiengrab der Michiler auf dem Martiner Friedhof. Was verlangte der Luis für seine Behandlungen? Gipschimer hålt eppis oder Sell isch nit asou hoaggl waren seine Antworten auf die Frage: Woos kriëggsche? Er war sehr sozial eingestellt, nahm, was ihm die Leute freiwillig gaben, die einen mehr, die anderen weniger; meistens war er mit den Selbstkosten zufrieden.
Gerne verband er eine Behandlung mit einem Raatscherle. Dabei fielen manche philosophisch klingende und seine Zeit überdauernde Sprüche wie
In Psaier tråggs lai drai gschaide Lait und auhåltn tiënse si moaschtns unter di Ëisl.
Wenns hintn wea tuët, muësche four ummer auhearn!
Leider endete mit dem Michiler die Familientradition der Bauerndoktoren. Sein Sohn Franz wäre als Nachfolger vorgesehen gewesen, doch diesem fehlten wohl Talent oder Interesse.
Woher hatte der Michiler das Wissen um Krankheiten und deren Behandlung? Da hatte er sicher viel Schriftliches wie Rezepte und Mündliches von seinem Vater Alois und seinem Großvater Michael übernommen, beide waren ja angesehene Bauerndoktoren. Er war auch stets in Kontakt mit Gemeindeärzten und Meraner Apothekern. Außerdem interessierten ihn medizinische Bücher. In der Gaststube beim Mitterwirt hatte er gånze Stëiln foll Sålbm und Piëcher, erinnert sich Oswald. Er unterhielt sich besonders gern mit Pater Cölestin Kusstatscher (1916–1999), dem Kooperator von St. Martin und einem exzellenten Kenner von Heilpflanzen. Ebenso unterwegs war er mit dem Medizinstudenten Alois Pichler (Unterwirts Luis), der 1952 leider bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
Zu den Gemeindeärzten hatte er ein gutes Verhältnis. Dr. Ebner, Dr. Mair-Egg und Dr. Wallnöfer sahen in ihm keinen Konkurrenten, sondern einen Heilpraktiker, der sie entlasten konnte. Besonders der Martiner Gemeindearzt Dr. Alois Wallnöfer (1885–1964) hielt viel vom Luis. Bei dessen Geburtstagsfeier zum 80sten pries er laut „Volksbote“ in umfassender und vielsagender Rede das Verdienst und die Wirksamkeit des Passeirers.
Der Luis isch a fainer Mentsch giweesn und nit ungschickt, so beschreibt ihn sein Enkel Max; „Nicht ungeschickt“ bedeutet für Passeirer ein großes Kompliment. Die Leute hatten zum Michiler großes Vertrauen, seine einfache, freundliche und hilfsbereite Art kam bei allen gut an. Sogar aus dem Meraner Raum, aus Ulten, dem Untervinschgau, Sarntal und Sterzing kamen vor allem Bauern, um sich Rat und Hilfe zu holen.
Fotoserie zum Begräbnis des Alois Pichler am 23. November 1954 in St. Martin in Passeier, aus den Fotosammlungen von Tobias Egger-Karlegger, Rosa Pichler und Helga Holzknecht.
Am 23. November 1954 starb der Michile Luis im Alter von 84 Jahren. Seine Frau Christine war ihm sechs Jahre im Tode vorausgegangen. Wie bekannt und angesehen Luis im Tal und darüber hinaus war, zeigte sich bei seinem Begräbnis in St. Martin. Sämtliche Verbände und Vereine und eine unübersehbare Menge von Trauergästen aus ganz Passeier und den Nachbartälern nahmen Abschied von dem damals wohl bekanntesten Passeirer, zuerst in der Kirche und auf dem Friedhof, nach der Beisetzung beim Totenmahl beim Oberwirt, Mitterwirt, Unterwirt und im Schießstand. Treffend steht auf seinem Sterbebild, dass er reich an ärztlicher Kenntnis und Erfahrung, wohltuend und hilfsbereit gegen alle war.
Der auffällige Grabstein der Familie Pichler, ehemals Mitterwirt, am Friedhof von St. Martin in Passeier, Anfang der 1950er Jahre (noch ohne Geburtsdatum von Christine Pfitscher verehelichte Pichler. Foto: Vedovelli, St. Leonhard in Passeier, Sammlung Helga Holzknecht) und 2023 (Foto: Judith Schwarz).
Wer hat noch eine Michile-Salbe daheim? Oder kennt Geschichten zum legendären Bauerndoktor?
Wir freuen uns auf einen Kommentar oder eine Nachricht!