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Vergangenes Glück
Mein Opa und seine erste Frau.
Mein Opa und seine erste Frau.
Von Tobias Egger-Karlegger
Wenn dieses Bild in Deine Hände weilt, sols Dich an vergangenes Glück erinnern. So schrieb Maria – oder Moidl, wie sie auch genannt wurde – auf die Rückseite eines Fotos, als Andenken für ihren geliebten Oswald, ihren späteren Ehemann.
Es ist die tragische Geschichte der jungen Maria Karlegger. Ihr Leben war so traumhaft und unbeschwert, jedoch mit nur 25 Jahren endete es viel zu früh. Die Erzählungen meines inzwischen 94-jährigen Großvaters Oswald über seine einst geliebte Ehefrau faszinierten mich stets. Heuer, am 20. Juli 2023, jährt sich das Unglück zum 71. Mal. Anhand der Zeitungsberichte der damaligen Zeit, die nun nach der 70-jährigen Verjährungsfrist digital zugänglich sind, kann ich heute das Geschehen am Unglückstag nachvollziehen und die Erzählungen meines Großvaters belegen. Am Sonntag, den 20. Juli, gegen 8 Uhr früh, ereignete sich auf der Passeirer Staatsstraße bei Kilometer 19.631 ein schweres Verkehrsunglück…, so schrieb die Tageszeitung Dolomiten am 22. Juli 1952. Und genau am Tag dieser Berichterstattung verstarb Maria Karlegger.
Maria ist am 11. Dezember 1927 auf dem Brantleithof in St. Leonhard in Passeier geboren. Sie war die Tochter des Martin Karlegger – Stierschneidersohn aus Stuls und Metzgereibesitzer beim Frickhof in St. Leonhard – und der Theresia Pichler – Tochter des Bauerndoktors Alois Pichler auf Brantleit, besser bekannt als Michile Luis. Maria und ihre Eltern lebten zunächst als Pächter auf Brantleit, bis schließlich im Jahre 1936 Marias Vater den Hof seinem Schwiegervater zu guten Konditionen abkaufte. Zugleich verkaufte er die Metzgerei beim Frick, welche er zusammen mit seinem Bruder Luis besaß.
Die Moidl war sehr begehrt und für die damalige Zeit äußerst modern. Als einziges Kind am Hof, und somit Alleinerbin, rannten ihr die Verehrer nur so nach. Laut Erzählungen kam es sogar vor, dass die Idee zum Fensterln mehreren Burschen gleichzeitig in den Sinn kam und so eine Rauferei entstand, die glimpflich endete. Auch erregte Maria gerne viel Aufsehen, da sie immer schöne Kleider trug und sogar beim Kirchgang in weißen Schuhen zu sehen war, was zur damaligen Zeit nicht üblich war.
Sie wickelte ihren Vater Martl halt stets um den Finger. Und so erhielt sie von ihm immer Geld, um sich etwas Neues zu kaufen. Die Mutter meines Großvaters war an den Rollstuhl gefesselt und so rief sie ihn eines Tages zu sich, um ihm zu raten, er solle nicht mehr zu Moidl gehen: Di Moidl passt nit zi dir, si isch fiil zi modern fi dir. Darauf erwiderte mein Großvater: Ober sëll gfållt miër!
Erinnerung ist die schönste Gabe, die uns begleitet bis zum Grabe, schrieb Moidl auf eines ihrer Fotos. Ende der 40er Jahre lernte sie den um zwei Jahre jüngeren Scheibersohn, Ranggler und Schuhplattler Oswald Egger kennen. Sie begegneten sich das erste Mal im Sommer bei der Heumahd beim Wasserholen im sogenannten Sandwald oberhalb vom Sandhof.
Eine schöne, aber leider nur kurze Zeit verbrachten Moidl und Oswald zusammen. Schließlich heirateten sie am 10. Januar 1952 in St. Martin und feierten gemeinsam beim Scheiberhof. Zur frohen Feier am Heimathof des Bräutigams stellte sich auch die Streichmusik ein, deren Mitglied der Bräutigam ist, und der 82jährige Michele Luis führte zur Hochzeit seines Enkelkindes voll jugendlicher Freude den Geigenbogen, so schrieb die Dolomiten dazu.
Mein Großvater erzählte immer, dass es eine schöne Hochzeit gewesen ist. Über 40 Leute, der Chor und eine Stubenmusik, bei der er Mitglied war, waren gekommen. Am Ende der Hochzeit dankte der alte Dorfbauer Hans Schwarz dem Brautvater Martin für die schöne Feier. Dieser erwiderte, er habe nichts bezahlt. Kuëne Liire håt er gizoolt, so mein Opa.
Das große Unglück passierte knappe sechs Monate nach der Hochzeit. Der Schicksalstag im Juli desselben Jahres war ein gewöhnlicher Sonntag. Nach dem Kirchgang war es üblich, dass man nicht wie heute über den Pichl geht, sondern hinunter zur Hauptstraße, um von dort über Rennwies zum Brantleithof zu gelangen.
An diesem 20. Juli um 7.35 Uhr morgens fuhr die Kolonne der Alpini Gebirgsartilleriegruppe „Susa“ vom Jaufenpass in Richtung Meran. Laut Zeitungsbericht kam der 22-jährige Soldat Tullio Tongi mit seinem Militärlastwagen beim “Brüh-Grübl” von der Straße ab, genau an der Stelle, an der eine Gruppe Kirchgänger*innen unterwegs war. Dabei hat er die schwangere Moidl und ihre Mutter Theresia überrollt. Oswald, der gerade beim Bewässern der Wiesen war, wurde von der Ganderbäuerin vom Nachbarhof alarmiert. Die beiden schwer verletzten Frauen brachte man nach Obermais in die Klinik Dr. Kneringer. Die Mutter erlitt einen Beckenbruch, kam aber mit dem Leben davon. Anders Maria. Sie war nur schwach bei Bewusstsein und hat ihren Ehemann nicht mehr erkannt.
Da ihr Zustand hoffnungslos schien, wurde sie, um in der Heimat sterben zu können, nach St. Leonhard gebracht, so die offizielle Version der Tageszeitung Dolomiten drei Tage nach dem Unglück. Laut den Aussagen meines Opas verstarb Maria jedoch bereits im Krankenhaus an schweren inneren Verletzungen. Um Kosten für Leichentransport und Kirchenabgaben zu vermeiden, konnte die leblose Moidl noch mit einem Krankentransport bis zum Klotz beim Sandwirt gebracht werden. Oswald trug seine Frau gemeinsam mit seinem Bruder Sepp (Schaiber Sepp) und dem Knecht Anton Pixner (Stuëner Toonig) über das Feld bis zum Brantleithof. Auch das ungeborene Kind hat das Unglück nicht überlebt.
Fotos von der Beerdigung von Maria Karlegger am 24. Juli 1952 um 6.30 Uhr bei der Theiskapelle in St. Leonhard. Auch eine Abordnung der Alpini war anwesend. Fotograf: J. Vedovelli, St. Leonhard in Passeier.
Schwere Zeiten standen Oswald bevor. Er war nun mit gerade einmal 23 Jahren Witwer. Der Gerichtsprozess rund um das Verkehrsunglück dauerte fünf lange Jahre. Inzwischen gingen im Dorf Gerüchte um die Nachfolge des Brantleithofes um: Mit den Schaiber wermr schun foorn af Pråntlait, so machte sich der Neid bei den Burschen im Dorf bemerkbar, wie Oswald heute noch erzählt. Einmal musste er sich sogar mit einem Stock gegen einige Männern wehren, die ihm auf dem Nachhauseweg auflauerten. Im Jahr 1954 entschloss sich der Brantleitbauer Martin schließlich, Oswald als Adoptivsohn aufzunehmen, damit er einmal dessen Nachfolge antreten konnte. Dadurch erhielt Oswald den Doppelnamen Egger-Karlegger, den seine Familie bis heute trägt.
1956 heiratete Oswald meine Oma Karolina Hofer. Von den Adoptiveltern wurde die neue Ehefrau nicht gerade herzlich empfangen, weshalb sie für einige Jahre in eine Mietwohnung beim Kolberhäusl und später in eine Wohnung beim Faunerhof einzogen. Lotterin [Bettlerin] kimp af Pråntlait kuëne, so sagte einst der Adoptivvater Martin über meine Oma, worauf mein Opa erwiderte: Når gea i hålt! Natürlich wollte Martl meinen Opa nicht gehen lassen, denn er hatte sonst niemanden, der ihm auf dem Hof half.
Schließlich errichtete Oswald ein Eigenheim für die inzwischen fünfköpfige Familie. Mit dem Schmerzensgeld aus dem Gerichtsprozess und etwas Erspartem kaufte er 1962 ein Grundstück vom Nachbar ab, denn der Adoptivvater Martin überließ ihm keinen Baugrund. 20 Jahre später konnte Oswald den Brantleithof endgültig mit Schenkungsvertrag und einigen Auflagen übernehmen. Martin Karlegger verstarb am 7. Februar 1983 im Alter von 84 Jahren, die Adoptivmutter Theresia war bereits 1974 gestorben. Im Jahr 2004 starb auch die zweite Ehefrau Karolina Hofer nach dreijährigem Wachkoma in Folge eines Asthmaanfalls.
Bis heute lebt Oswald Egger-Karlegger in seinem Haus neben dem Brantleithof. Und erzählt gerne über das vergangene Glück und Unglück mit seiner ersten Frau Maria, von der ihm die Hälfte seines Nachnamens, einige Fotos und die Erinnerungen geblieben sind.
UPDATE 11.10.2023:
Ein interessantes Detail: Moidl und ihre Mutter wollten nach dem Kirchgang noch beim Dürrerhof vorbeischauen, denn zwei Tage vorher, am 18. Juli 1952, ist dort der Sohn von Moidls Freundin Maria Gufler geboren. So erzählte es die Tochter einer weiteren Freundin, Barbara Gögele (geb. 1922).