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I triangoli verdi
Vor genau 80 Jahren kamen 15 Passeirer Familien ins Konzentrationslager Bozen.
Vor genau 80 Jahren kamen 15 Passeirer Familien ins Konzentrationslager Bozen.
Von MuseumPasseier
Wir fangen an, mit dem was blieb. Und das sind Minigeschichten von Zeitzeugen, allesamt als Ton- und Filmdokumente überliefert. Doch, fangen wir besser wirklich von vorne an, oder zumindest weiter vorne: Seit Frühling 2024 ist eine Arbeitsgruppe dabei, über 10 Stunden Audiomaterial für das Museum zu transkribieren, also als Text zu tippen. Die Aufnahmen stammen aus den 80er und 90er Jahren – die Zeitzeug*innen sprechen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und leben nicht mehr.
Verfolgt – verfemt – vergessen. So nennt sich die Publikation, die anschließend an die von Leopold Steurer, Martha Verdorfer und Walter Pichler geführten Interviews im Jahr 1997 publiziert worden ist. Ein Buch über Wehrmachtsdeserteure in Südtirol – in den Interviews erzählen vor allem deren Familienangehörigen. Einige “Passeirer Passagen” aus den Tonaufnahmen sind im Buch verwendet worden, aber ein getipptes, geglättetes Zitat in der Schriftsprache ist doch etwas ganz anderes als der mitunter sehr emotionale O-Ton im Passeirer Dialekt.
Diese Tonspuren stehen nun im Mittelpunkt. Sie sollen Raum und Gehör finden in einer Sonderausstellung im Sandwirtskeller. Vor einem Jahr schrieb nämlich die Euregio ein neues Themenjahr für 2025 aus und wünschte sich Museumsprojekte, die sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Widerstands sowie des Umgangs mit Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschäftigen. Das MuseumPasseier schloss sich mit den Ötztaler Museen zusammen und für 2025 werden dazu also diesseits und jenseits des Jochs Ausstellungsprojekte entstehen.
Krisenzeit – Widerstand – soziale Ungerechtigkeit: Diese Schlagworte verdichten sich im Passeier genau in jenem “beschwiegenen” Kapitel über die Wehrmachtsdeserteure: Nicht umsonst schreibt Sepp Haller 1986 vom “Problemkreis Passeirer Partisanen”. Der Fokus des Ausstellungsprojektes für 2025 wird auf den Erzählungen liegen: Welche Überlebensgeschichten aus dem Krieg haben überlebt, und zwar im Familiengedächtnis der Passeirerinnen und Passeirer? Doch bis dahin liegt noch viel Arbeit vor uns.
Abgesehen von den Interviews wurden kaum themenbezogene Objekte, Fotos oder Schriftstücke hinterlassen. Zur starken Audiolastigkeit und augenscheinlichen Objektlosigkeit der Ausstellung wird es einen visuellen Ausgleich brauchen.
Der Zufall wollte dann, dass wir sofort starten. Heuer jährte sich am Samstag, den 21. September, der Tag, an dem die „große Razzia“ in Passeier stattgefunden hat, zum 80sten Mal. Abgesehen davon, dass der 21.9. auch der Internationale Tag des Friedens ist, fanden wir, dass wir diesen Abend unbedingt nutzen sollten, um die Schicksale der triangoli verdi, der sogenannten „Sippenhäftlinge“ im Konzentrationslager Bozen, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Riiglin oder nit riiglin?
Einen ersten Versuch, ob Handzeichnungen funktionieren, haben wir schon gestartet: Am 21. September sind wir mit unseren Ausstellungsplänen an die Öffentlichkeit gegangen und haben einen „Familienabend“ angeboten.
Ein einschneidendes Ereignis für das Tal. 15 Passeirer Familien wurden als Geiseln in sogenannte „Sippenhaft“ nach Bozen verschleppt – ein Tag, der im Passeier bislang noch nie besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Im Mittelpunkt unseres Abends, der mit Hörproben und Zeichnungen den 21. September 1944 in Erinnerung rief, standen dabei nicht die Deserteure, sondern die Eltern, Brüder und Schwestern der Deserteure, die im KZ mit grünen, auf ihren Häftlingskleidern aufgenähten Dreiecken (triangoli verdi) gekennzeichnet wurden.
Die Geschichten sind geprägt von Entscheidungen. Dienen oder desertieren? Verraten oder schweigen? Gehorchen oder widersetzen? Überleben oder sterben? Bestrafen oder verzeihen? Erinnern oder vergessen? Und jetzt, 80 Jahre nach dieser Zeit bzw. nun, wo die letzten Zeitzeugen just in den letzten Jahren verstorben sind, stehen die Familien mit den Erinnerungen da und vor der Entscheidung: Tragen wir die Erinnerungen unserer Vorfahren erzählend als immaterielles Familienerbe oder schweigend als Last der Vergangenheit weiter?
Was also tun, mit diesen Minigeschichten? Wir hoffen, mit dem Abend einen ersten Impuls gesetzt zu haben, sich mit den fremden, und vor allem mit den eigenen Familiengeschichten auseinanderzusetzen – in Gedanken oder auch im Gespräch. Ob die Ausstellung im nächsten Jahr dann, mit diesen Bruchstücken an Erinnerungen, Erfahrungen, Verletzungen und Hoffnungen das Potenzial haben wird, sich als mehrschichtige Erzählung mit einem roten Faden ins kulturelle Gedächtnis von Passeier einzuweben, werden wir sehen.
Fotos: Barbara Pixner
Ach, du Langer Neuner!
Eine Fotostrecke mit Suchspiel
Eine Fotostrecke mit Suchspiel
Von Tobias Egger-Karlegger
Sein markanter Bart und seine lange Statur sind unverkennbar. Die Rede ist von Josef Pixner, vulgo der Långe Nainer, geboren am 17. Juni 1871 in Pill auf dem Unterzaglhof oder besser bekannt als Nainer. Als Bergführer, Feuerwehrkommandant, Jäger, Schütze, Musikant, Tischler, Gastwirt und Gemeindevorsteher von St. Leonhard taucht er immer wieder auf alten Fotos auf und fasziniert mit seinem dominanten Auftreten.
Wer erkennt ihn auf folgender Fotostrecke? Die Auflösungen (Josef Pixner in Grün markiert) finden sich jeweils im Folgefoto (Pfeil nach rechts).
Josef Pixner und der Verein „Vince Luna“. Der Verein der „Umgestülpten“, wie er auch genannt wurde, war ein Verein für Geselligkeit, Ausflüge, Musik und Gesang. Die Mitglieder waren allesamt angesehene Personen aus Passeier (vgl. Blogartikel zu Fotograf Franz Ploner). Vermutlich hat sich der Verein aus einer Studentenverbindung des ehemaligen Gemeindearztes von St. Leonhard, Dr. Eduard Neurauter, abgesandt. Foto: Um 1923/24. Fotobesitz: Familie Ploner.
Das nächste Bild ist schon eine Spur schwieriger. Dieselben neun Gefährten, aber ohne Hut. Der Pfeil nach rechts führt zur Auflösung.
Josef Pixner bei der 15-jährigen Gründungsfeier der „Umgestülpten“ 1913. Der Verein wurde 1928 aufgelöst, nachdem Josef Pixner vor den Faschistischen Behörden ausgewandert war. Siehe auch Blog zum verschollenen Fotografen Franz Ploner. Fotobesitz Familie Ploner.
Immer noch einfach. Auf dem einzigen Gruppenbild, in dem ausnahmsweise mal die Frauen überwiegen, ist Josef Pixner schnell gefunden.
Frauenrunde aus St. Leonhard um 1925, mit Josef Pixner als Vorsteher. Foto: Karl Gögele. Fotobesitz: Pfarrarchiv St. Leonhard.
12 Personen sind auch noch überschaubar. Im nächsten Foto ist er deshalb gut auszumachen. Zum markierten “Grünen Neuner” gelangt man über den Pfeil rechts im Bild.
Josef Pixner und die Geistlichkeit. 1926 fand das Priesterjubiläum von P. Florian Salutt in Platt statt. Fotobesitz: Talarchiv Passeier.
Was findet Google zu “Langer Neuner”? So nennt man lange und 9 Pfund schwere Marine-Kanonen. Auf dem folgenden Foto aus Kriegstagen gibt es keine Kanonen, sehr wohl aber einen (jungen) Långin Nainer. Wer ihn nicht findet, klickt auf den rechten Pfeil.
Josef Pixner im Krieg. Während des Ersten Weltkrieges war der Långe Nainer Hauptmann im Batallion Passeier. Fotobesitz: Familie Egger-Karlegger.
Und weiter zum nächsten Gruppenfoto. Am 30. November 1926 werden mehrere Fotos mit Josef Pixner geschossen, mit weiteren Promis vor festlich geschmücktem Kirchlein.
Die Kapelle beim Puëcher in der Kellerlahn steht an ihrem Einweihungstag am 30.11.1926 im Rampenlicht. Fotobesitz: Heimatpflegeverein Passeier.
Das nächste Bild. 22 fröhliche Gesichter – und ausgerechnet der Långe Nainer macht ein langes Gesicht.
Josef Pixner mit Musikanten oder Schützen beim Wirt in Walten, direkt neben der Kirche. Fotobesitz: Familie Egger-Karlegger.
Nun sind wir schon bei 25 Personen. Diesmal sind es lauter neunmalkluge Köpfe – da darf der “Neuner” nicht fehlen.
Josef Pixner als Gemeindevorsteher. Der Långe Nainer vermutlich bei einer Lehrerkonferenz vor dem Gasthaus Edelweiß in St. Leonhard. Foto: Um 1925. Fotobesitz Familie Egger-Karlegger.
Wieder 25 Menschen auf dem Foto – samt sechs Instrumente. Und der Långe Nainer spielt natürlich nicht das kürzeste.
Josef Pixner als Musikant. Foto vom Gasthaus am Schneeberg, vermutlich um die Jahrhundertwende. Wahrscheinlich war es ein Ausflug vom Verein “Vince Luna“, denn es sind noch weitere bekannte Gesichter von Mitgliedern zu sehen, vgl. das erste Foto dieser Fotostrecke. Fotobesitz: Familie Ploner.
Josef und die 40 Feuerwehrmänner. Zuerst den Långin Nainer in Uniform und mit Helm suchen, dann über den Pfeil rechts im Bild zur Auflösung.
Josef Pixner als Kommandant. Gruppenfoto der Freiwilligen Feuerwehr St. Leonhard im Jahre 1921. Fotobesitz: Familie Ploner.
Was beim Kegeln gilt, gilt auch hier: Am besten alle Neune! Wer den Långin Nainer findet, ist schon weit gekommen.
Josef Pixner 1924 beim Priesterjubiläum von P. Vigil Kofler vor dem Gasthaus Platterwirt. Rechts neben Josef Pixner steht der damalige Gemeindearzt, Dr. Romedius Ebner, der im sogenannten Doktorhaus in St. Leonhard wohnte. Fotobesitz: Daniel Hofer.
Ach du grüne Neune! Wo inmitten des Grünzeugs und 43 Musikanten und Schützen steckt der “Lange Neuner”?
Gruppenfoto der Musikkapelle und einiger Schützen von St. Leonhard und St. Martin, möglicherweise entstand es bei einem Traubenumzug in Meran. Fotobesitz: Familie Egger-Karlegger.
Auch hier knifflig. Weniger die Suche nach Josef Pixner inmitten der 47 Personen – sondern das Rätsel, um welche Feierlichkeit mit Mädchen und Frauen es sich hier handelt.
Josef Pixner bei der Musikkapelle. Das Foto mit der Musikkapelle Andreas Hofer ist nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, vermutlich bei einer Erstkommunion oder Firmung Anfang der 20er Jahre. Der Långe Nainer als Stabführer, die drei Männer im Anzug vorne sind v.l. Johann Delucca, Leonhard Kofler – Unterzëgg und der Lehrer Stefan Wurzer. Foto: Alois Oczlon. Fotobesitz: Familie Egger-Karlegger.
Das fünfzehnte Foto, eine Hochzeit. Das Brautpaar lässt sich mit 45 Verwandten und Bekannten verewigen.
Eine Hochzeitsgesellschaft inklusive Streichmusik posiert im Schnee vor dem Platterwirt. Fotobesitz: Talarchiv Passeier.
Finale! Viel Spaß mit dem sechzehnten und letzten Bild: Dieses Gruppenfoto mit dem “Langen Neuner” inmitten von 120 Männern, zwei Frauen sowie zu Füßen des Andreas Hofer ist wohl nicht zu toppen.
Andreas-Hofer-Feier 1909 am Bergisel bei Innsbruck. Fotobesitz: MuseumPasseier.
Wir freuen uns, wenn weitere Långe-Nainer-Fotos auftauchen, die wir hier veröffentlichen können.
Lebensdaten zu Josef Pixner
1871
Josef Pixner wird am 17. Juni 1871 in Pill auf dem Unterzaglhof – besser bekannt als Nainer – geboren.
Jahrhundertwende
Der Tourismuspionier war nicht nur Fremdenführer, sondern auch beim Bau vieler Wanderwege und Schutzhütten wie der Stettiner und Zwickauer Hütte, wo er zeitweilig auch Hüttenwirt war, als Unternehmer tätig. Um die Jahrhundertwenden soll er zeitweise bis zu hundert Arbeiter beim Wegebau beschäftigt haben. So ist heute das Biwak am Rauhjoch auf 2707m nach ihm zu Ehren benannt.
1903
Am 24. Februar 1903 heiratete er in Untermais Maria Ennemoser vom Zornhof in St. Martin – Kinder hatten sie keine.
1914
Im ersten Weltkrieg war Josef Pixner Hauptmann beim Standschützenbataillon Passeier.
1920
Im September 1920 wurde er Wirt beim Gasthof Edelweiss (später Gebäude des Gemeindeamt und heutiges Postamt) in der Kohlstatt von St. Leonhard.
1922
Im Jahr 1922 wurde er zum Gemeindevorsteher (Bürgermeister) von St. Leonhard gewählt. Zuvor war er schon Obmann der Ortsgruppe der Tiroler Volkspartei. Zu dieser Zeit war er auch Feuerwehrkommandant von St. Leonhard.
1926
Durch die Auflösung aller Ämter durch die Faschisten musste der “Lange Neuner” im Mai 1926 den italienischen Beamten und Kommissionären weichen.
1928
Laut Zeitungsartikel in “Der Südtiroler” musste Josef Pixner aufgrund von Unstimmigkeiten mit den italienischen Behörden im April 1928 auswandern. Er soll vor der drohenden Internierung und Verbannung geflohen sein, nachdem er von den Faschisten beschuldigt worden war, italienfeindliche Propaganda betrieben zu haben. Am 26. April wurde er von einem Freund gewarnt und beschloss daraufhin, in der Nacht vom 27. auf 28. April eine „abenteuerliche und gefahrvolle Flucht über die Berge“ zu unternehmen. Seine Frau begleitete ihn auf der Flucht. Ihr Eigentum mussten sie zurücklassen. Es wird erzählt, dass er von der Zwickauer Hütte über den Seelenkogel nach Tumpen im Ötztal geflohen sei, wo er zum Teil dann auch gelebt hat.
1929
Auch in der neuen Heimat blieb er kein unbekannter Mann. Da er ein ausgezeichneter Redner war, wurde er auch als Gastredner eingeladen wie z.B. im Juli 1928 bei der Kundgebung der Tiroler Nationalräte zur „Antwort Tirols an Italien“ am Berg Isel mit mehr als 10.000 anwesenden Zuhörern. Oder beim Südtirolerabend in Kitzbühl im Februar 1929 und im März 1929 bei der Gründungsfeier des Andreas-Hofer-Bundes Reutte bzw. im September 1929 in Seefeld.
1931
1931 zog er sich als Gastwirt in Brixlegg zurück und betrieb dort den Gasthof „Hygna“. Danach verliert sich seine Spur nach und nach.
1957
Gestorben ist der “Lange Neuner” am 16. Dezember 1957 in Rattenberg.
Die vier Hofertöchter
Welche taugt zur Opernfigur?
Welche taugt zur Opernfigur?
Von MuseumPasseier
Andreas Hofer ist ein Opernheld. Bereits 1830 wird ihm in London die Oper “Hofer, oder: Der Tiroler Tell” gewidmet, 1835 in Paris die Opéra-comique “Alda”, in der er allerdings Max Hofer heißt. Im Grunde alles verstaubte Operngeschichten, die schon mal bessere Tage erlebt haben.
Was hat Passeier sonst noch in punkto Oper zu bieten? Da fallen wohl vielen drei Schwestern aus St. Leonhard ein, die sich als Opern- bzw. klassische Sängerinnen einen Namen gemacht haben. Eine davon, Ulrike Haller, hat sich kürzlich im Museum mit einer ungewöhnlichen Idee gemeldet. Als Hofer-Nachfahrin möchte sie eine Oper zu Hofers Töchtern singen. Und ist deshalb auf Stoffsuche.
Die Quellen sind spärlich und zweifelhaft. Während über die Mutter Anna Ladurner zumindest Gerichts- und Polizeiprotokolle sowie Bittschriften da sind, fehlen bei den Töchtern rekonstruierbare Berichte oder gar von ihnen verfasste Dokumente: Die “Fakten” sind mehr Erzählung als Forschung, schreibt Hoferbiograf Andreas Oberhofer zur Frage nach der Quellenlage.
Ein*e Opernregisseur*in allerdings will etwas anderes wissen: Sind diese Erzählungen spannend? Taugen sie für die Bühne? Und um welche markante Figur soll sich die Oper drehen? Es braucht sehnsüchtige Zweigesänge der Verliebten und schwelende Familienzwiste, leidende Heldenfiguren und zornige Bösewichte, unterhaltsame Wirtshausszenen und sterbende Schwäne. Die vielen historischen Lücken, die uns zu schaffen machen, sind für eine Operngeschichte vielleicht gar nicht relevant: Es zählt das Kopfkino bzw. die Kopfoper.
Deshalb die Frage: Welche der Hofertöchter taugt zur Opernfigur? Wobei – nebenbei – uns erst jetzt auffällt, dass es keine Hinweise gibt, ob Mitglieder der Hoferfamilie musikalisch bewandert waren oder Instrumente spielten. Und, was uns seit unserem Gespräch mit Ulrike Haller auch zum Nachdenken gebracht hat: Wer pflegte die alte, bettlägerige Mutter im Dezember 1836? Fakt ist nämlich, Anna Ladurner stirbt keinen klassischen Operntod mit Dolch oder Gift, sondern an Entkräftung und alleine, ihre vier Töchter sind zu dem Zeitpunkt bereits tot. Vielleicht schaffen auch diese Leerstellen Platz für musikalische Überraschungen.
Im Folgenden also nun – bunt gemischt – Dichtung und Wahrheit über die Sandhoftöchter, was der Schöpfung einer neuen Opernkomposition als Anregung dienen möge.
Notizen von Rudolf Granichstaedten-Czerva (1885–1767) zu den Sandwirtstöchtern, Originale im Archiv der Tiroler Matrikelstiftung in Innsbruck. Der Jurist und Genealoge hatte u.a. zu Hofers Kindern geforscht und 1926 das Buch “Andreas Hofer. Seine Familie, seine Vorfahren und seine Nachkommen” herausgegeben. Zu den vier Töchtern hat er allerdings auch nicht mehr als einige Eckdaten herausgefunden. Foto: Tiroler Matrikelstiftung.
Tochter 1
Maria, die gegen den Willen der Mutter einen armen Stallknecht heiraten will und dafür bis zum Kaiser schreibt.
Die älteste Tochter Maria (~*16.02.1797) durchlebte im Kriegsjahr 1809 mit ihrer Mutter mehrere Stationen der Flucht vom Sandhof. Laut den Gerichtsaussagen der Sandwirtin waren die jüngeren Mädchen zeitweise bei Bekannten in St. Martin untergebracht. Mit dem Sohn Johann und eben mit der zwölfjährigen Maria flüchtete sie angeblich im November 1809 “am Keller” (Hof in der Kellerlahn gegenüber von St. Martin) und war dann ab Andreastag (30. November) in Pfelders, in Stuls und auf der “Schönnaer Alp” (Schönau in Hinterpasseier).
1811, mit 14 Jahren, wurde Maria zu den Tertiarschwestern nach Bozen geschickt, womöglich nicht nur um ihr eine gute Unterkunft und Mädchenbildung zukommen zu lassen, sondern vielleicht auch, um sie von “weltlichen Gefahren” abzuschirmen. Sie war dort vielleicht eine der sogenannten “Kostfräulein”, die im Kloster Kost und Logis gefunden haben, geistlich erzogen und durch das Angebot der Mädchenschule rudimentär unterrichtet worden sind, meint Schwester Anna Elisabeth Rifeser, die sich intensiv mit den historischen Quellen beschäftigt hat. “Kostfräulein” halfen zudem in der Küche, im Garten oder im Haus mit, erledigten Botengänge und Besorgungen oder erlernten Techniken wie Goldstickereien usw. Wir wissen nicht, wie lange sie dort war. Der Passeirer Landrichter schreibt 1828, von den vier Töchtern sei nur Maria nicht überheblich geworden: Sie hätte ihrer Mutter im Gasthaus geholfen, mit schlichter Bildung und gutem Herzen. Als sich eine Beziehung mit dem fünf Jahre älteren Andreas Erb anbahnt, sind Mutter und Geschwister nicht begeistert. Er ist ein armer Bauernsohn aus dem Tal, dem die Landwirtschaft mehr liegt als die Gastwirtschaft und der bereits seit mehreren Jahren am Sandhof als Knecht arbeitet. Es kommt angeblich zu Drohungen und Intrigen, Andreas Erb muss das Haus verlassen. Maria wendet sich an den Kaiser höchstpersönlich, um von ihm eine Heiratserlaubnis zu bekommen. Der Richter bescheinigt, dass es keine moralischen Einwände gegen die Ehe gäbe. Ein Passus, der nicht in das offizielle Urteil übernommen worden ist, lautet: Man sieht nicht ein, warum Andrä Erb seine Blicke nicht auf eine Sandwirthstochter, welche keineswegs mit besonderen körperlichen Reitzen ausgestattet ist, oder wegen Reichthum oder Bildung eine glänzende Partie wäre, erheben dürfte. Er ist ihrer würdig, und schwerlich möchte sie je eine bessere Wahl treffen können. Maria heiratet also mit 33 Jahren Andreas Erb, führt den Sandhof ihrer Mutter Anna Ladurner pachtweise gemeinsam mit ihrem Ehemann weiter, bringt drei Töchter zur Welt und stirbt mit 38 Jahren am 22. Juli 1835. Ein gutes Jahr nach Marias Tod lässt die 71-jährige Mutter Anna Ladurner als Sandhof-Eigentümerin ein Testament aufsetzen. Der Sandhof hatte sich inzwischen ökonomisch einigermaßen erholt. Die Landwirtschaft samt Wirtshaus sollte Maria Hofer und Andreas Erbs ältester Tochter Anna Erb (bzw. als nächste Erbfolgerinnen deren jüngeren Schwestern Maria und Rosa Erb) um einen Kaufpreis von 9.000 Gulden zukommen. Die drei Schwestern bzw. Enkelinnen von Anna Ladurner sind zu diesem Zeitpunkt sieben, fünf und zwei Jahre alt. Trotz Testament wird es anders kommen, keine von Marias Töchtern wird den Sandhof als Erbin übernehmen.
Tochter 2
Rosa, die vom Sandwirt zum Brühwirt zieht und dort kein Glück hat….
Rosa (*~30.08.1798) ist beim Tod ihres Vaters zwölf Jahre alt. Über sie ist derzeit am wenigsten bekannt. Sie ist 1811 angeblich bei den “Englischen Fräulein” in Meran, bislang konnte im dortigen Archiv oder im Stadtarchiv Meran jedoch kein Schriftstück zu ihr gefunden werden. Mit 19 Jahren hat sie vielleicht am Nonsberg eine Arbeitsstelle, denn die Mutter Anna Ladurner schreibt im April 1817 an ihren Sohn (Rosas Bruder): Die Rosa, so in Einsperg ist, schreibt mir sehr offt, ob du nicht einmall herauf komest. Wie viele Informationen würden wir wohl aus Rosas Briefen erhalten, wenn sie denn auffindbar wären?
Mit 32 Jahren heiratet Rosa dann Josef Holzknecht, den Wirt vom Gasthaus Brühwirt in St. Leonhard. Neun Monate später wird der Sohn Josef geboren, der im Alter von 6 Tagen an Diphterie (Gichter) stirbt. Kurz darauf später ist sie wieder schwanger, der zweite Sohn Johann lebt nur sieben Tage (der Eintrag im Taufbuch lautet wiederum: Gichter; nach 12 Stunden gestorben). Elf Monate später kommt der dritte Sohn auf die Welt, der wie sein berühmter Großvater auf den Namen Andreas getauft wird. Rosa erkrankt kurz nach der Entbindung und stirbt 13 Tage später mit 34 Jahren (und als erste der vier Schwestern) am 23. September 1832, laut Taufbuch an “Nervenfieber”. Kurioserweise hat die Schriftstellerin Klara Pölt (1862–1926) 1917 in einer Anekdote ihre Begegnung mit Rosas Tochter festgehalten, wobei Rosa keine Töchter hatte. In der Erzählung zeigt ihr (die fiktive) Tochter als alte Frau eine silberne Dose mit dem eingravierten Namen ihrer Mutter und berichtet, was ein Zeitgenosse immer erzählt haben soll: A saubers Weibets ists gwesen, das Hofer Rosele, und grad souvl a schöns Haar hat sie ghabt, man sieht sie selten, die Farb, nöt braun und nöt rot.
Der Sohn Andreas Holzknecht jedenfalls überlebt als einziges Kind den frühen Tod seiner Mutter. Er zieht aus Passeier fort und wird Handelsmann in Meran, sein Vater hatte nämlich nach eineinhalb Jahren erneut geheiratet und sein jüngerer Halbbruder Vinzenz sollte 1874 den Brühwirt erben.
Tochter 3
Anna, die von ihrer Tante zu einem gebildeten Stadtmädchen erzogen werden soll und am Krankenbett ihrer Mutter sterben wird.
Die dritte Tochter Anna (*~13.03.1803) hat ihre Mutter wohl am wenigsten erlebt. 1811 – die Halbwaise ist gerade mal acht Jahre alt – schickt Anna ihre gleichnamige Tochter zum Kuraten in Platt, Magnus Prieth (1783–1832), als Haushaltshilfe. Von 1815 bis 1825 lebt sie in Brünn bei ihrer Tante Maria Ladurner (02.01.1782–17.07.1845), die eine Schwester ihrer Mutter ist und unter dem geistlichen Namen Cordula im dortigen Ursulinenkloster weilt. Anna bekommt eine “städtische Erziehung” und kehrt 1825 als 22-Jährige für fünf Jahre an den Sandhof zurück. In dieser Zeit schreibt der Landrichter von Passeier, obwohl Anna in “guten Häusern” in Österreich gelebt habe, könne ein Menschenkenner sehen, dass ihre Bildung nur Scheinbildung sei und der “Urstoff” einer Wirtstochter überall herausblicke. Anna lebt dann von 1830 bis 1835 in Wien, während dieser fünf Jahre sterben in Passeier ihre drei Schwestern Rosa (1832), Gertraud (1834) und Maria (1835). Zu Annas Aufenthalt in Wien ist bislang nichts Weiteres bekannt, auch nicht ob sie Kontakt zu ihrem Bruder Johann hat, der 1834 mit seiner Familie dorthin übersiedelt ist und einen k.k. Tabak-Hauptverlag führt. Als ihre Mutter Anna erkrankt, kommt die ledige Tochter im Herbst 1835 wieder heim, um sie zu pflegen. Vielleicht hat sie sich auch um die drei kleinen Töchter ihrer im Juli verstorbenen Schwester Maria gekümmert.
Zu dieser Zeit lässt die alte Mutter ihr Testament aufsetzen, in dem Anna 970 Gulden zugesprochen werden und zusätzlich 1.000 Gulden in bar für die geleistete Krankenpflege und gezeigte kindliche Liebe. Weiters sollte sie das Mobiliar und die Kleidung und Wäsche der Sterbenden zur freien Wahl erhalten und ein “Gastzimmer” am Sandhof immer zur Verfügung stehen. Doch dann erkrankt diese letzte noch lebende Tochter und stirbt am 28. November 1836 an “Lungensucht” (evtl. Tuberkulose). Wer sich danach um die kranke Hoferwitwe kümmern musste, ist nicht bekannt, vielleicht deren siebenjährige Enkelin und Halbwaise Maria Erb. Anna Ladurner stirbt jedenfalls acht Tage nach dem Tod ihrer Tochter an “Entkräftung”.
Tochter 4
Gertraud, die als einzige Tochter nach dem Tod ihres Vaters die trauernde Mutter erlebt.
Die jüngste Tochter Gertraud (*~15.02.1805) wird mit fünf Jahren Halbwaise: Eine knappe Woche nach ihrem fünften Geburtstag erschießt man Andreas Hofer in Mantua – dass ihr Vater tot ist, erfahren die Kinder (wie auch die Ehefrau Anna) allerdings erst Wochen später. Während Gertrauds ältere Schwestern bald darauf in geistliche Obhut gegeben werden, bleibt sie als Nesthäkchen wohl bei ihrer Mutter am Sandhof. Über diese Zeit ist bislang nichts bekannt. 1819/20 scheint in den Protokollen der “Englischen Fräulein” in Meran eine Gertrud Hofer, 15 Jahre als “Kostgängerin” auf, sie ist am 9. September 1820 in die dritte Klasse eingetreten. Das Alter würde passen, auch die Angabe im Feld zum Beruf des Vaters bzw. zur Herkunft: Wirth, Leonhart. Dann finden wir erst wieder 1830 Einträge, und zwar in den Kirchenbüchern der Pfarre St. Leonhard: Gertraud heiratet mit 25 Jahren den Mesner Johann Haller von St. Leonhard und bekommt drei Kinder: Anna, Johann und Georg. Ein halbes Jahr nach der letzten Entbindung stirbt sie, mit 29 Jahren, im Sterbebuch ist “Leberleiden” als Todesgrund angegeben. Somit ist sie die einzige Hofertochter, die ihren 30. Geburtstag nicht mehr erlebt, ihre Schwestern sind immerhin 38, 32 und 33 Jahre alt geworden. Vier Monate nach ihrem Tod stirbt der zweitgeborene Sohn Johann im Alter von zwei Jahren. Der jüngste Sohn Georg wird dann wieder einen Bezug zum Sandhof haben, an dem seine Mutter aufgewachsen ist: Er ist zunächst wie sein Vater Mesner von St. Leonhard (vulgo Messner Jörgl), wird dann dort Postmeister und als 1890 die Tiroler Matrikelstiftung den Sandhof erwirbt, wird er dessen Pächter.
Na? Wer ist für euch die Favoritin?
Auch wenn das Libretto erst geschrieben und eine Finanzierung gefunden werden muss (oder gar aus der Oper nichts werden sollte), Ulrike Haller und das Museum freuen sich auf geschichtliche Hinweise, aber auch über Anregungen fürs Drehbuch.
Quellen:
Die Angaben stammen, sofern nicht angegeben, aus Kirchenbüchern und dem Kapitel “Das weitere Schicksal des Sandhofs und der Familie Hofers” in Oberhofer Andreas: Der Andere Hofer. Der Mensch hinter dem Mythos. Innsbruck 2009 (S. 363–395).
Milchreis im Krieg
Die Feldpost des Romedius Ebner.
Die Feldpost des Romedius Ebner.
Von Judith Schwarz
Der Teufel steckt im Detail. Will heißen, wir haben eine vermeintliche Kleinigkeit unterschätzt. Die Kleinigkeit ist der schriftliche Nachlass der Familie Ebner aus St. Leonhard, den wir im Jänner 2023 kurz vor dem Abriss des Doktorhauses erhalten haben.
Eigentlich sind es nur 30 Zentimeter. So hoch ist der Stapel an 320 Briefen und Ansichtskarten, 200 haben wir im Laufe des letzten Jahres gesichtet. Nun wär auch der Rest zu lesen bzw. vielmehr zu entziffern, aber im Gegensatz zu Papier sind wir nicht geduldig.
Also schlagen wir dem oben erwähnten Teufel ein Schnippchen: Wir tun so, als wären wir schon durch. Und veröffentlichen in diesem Blog die ältesten Dokumente, die Feldpost des Ersten Weltkrieges. Die lässt sich zeitlich schön eingrenzen und Romane hatte man auf den vorgefertigten Postkarten eh nicht Platz.
Verfasst hat die Briefe und Postkarten der junge Arzt Romedius Ebner (1886–1967). Bevor er Gemeindearzt im Passeier wurde, hatte er als Assistenzarzt im 4. Tiroler Kaiserjäger-Regiment gedient. Jetzt möchte man meinen, im Doktorhaus lagerte die Feldpost, die der Arzt im Krieg erhalten hat. Doch es ist umgekehrt: Es sind jene Schreiben aufbewahrt worden, die er selbst verschickt hat.
Liebe Mutter! Lieber Bruder! So beginnt er seine Briefe, die er entweder an seine verwitwete Mutter Barbara Knoll richtet oder an seinen einzigen Bruder Hans. Beide lebten in Schlanders im Vinschgau – da die zwei vor ihm verstorben sind, sind die Schriftstücke wohl nach Passeier gekommen und dort im Doktorhaus verblieben. Die Schreiben starten im August 1914 und enden im Dezember desselben Jahres, also lange bevor der Erste Weltkrieg aus sein wird.
Zwölf Schriftstücke erzählen also von Romedius’ ersten Kriegsjahr. Und ungefähr ein Dutzend Mal wandeln sich auch die Eindrücke in seinen Berichten im Laufe dieser vier Monate: Kriegsbegeisterung – Kriegsoptimismus – Kriegsungeduld – Kriegsmüdigkeit, die Reihenfolge scheint beliebig. Von Kriegsgrauen oder Kriegskritik lesen wir nichts, allerdings wissen wir auch nicht, wie stark der Assistenzarzt die Zensur fürchten musste oder seine Familie schonen wollte – und auch was diese eventuell zwischen den Zeilen herauslesen konnte. Der Teufel steckt also tatsächlich im Detail.
“… mit Blumen überschüttet in der Hauptstadt Ungarns”
Die früheste Feldpostkarte datiert mit 16. August 1914. Romedius schreibt aus Budapest an seine Mutter in Schlanders “herzliche Grüße vom Russischen Feldzug”.
Budapest, am 16. Aug. 14
Liebe Mutter!
Von einem unbeschreiblichen Jubel der Ungarn empfangen und mit Blumen überschüttet in der Hauptstadt Ungarns angelangt. Die Reise dauert noch 3 Tage u. Nächte, aber trotzdem ist die ganze Mannschaft riesig begeistert. In Hopfgarten habe ich die Frau Pirader [?] gesehen. Euch beiden recht herzliche Grüße vom Russischen Feldzug
Romed.
E 103 Postkarte (Feldpostkorrespondenzkarte)
Poststempel vom 17.08.1914, Budapest Hh 62 hh.
Romedius Ebner, Feldpost 98 (4. T. K. J. Rgt.) 3 B., an seine Mutter Barbara Knoll, Schlanders, Tirol Vintschgau, b. H. Kaufmann Jos. Pegger
“Wichtiges habe ich ja nicht geschrieben”
Der nächste Brief – eine gute Woche später – geht an seinen Bruder Hans. Wir lesen heraus, dass er bereits mehrere Karten an seine Familie verschickt hat, vielleicht mehr aus Pflichtbewusstsein, denn er gibt selbst zu, dass er wenig Schreibstoff hatte.
24. August 1914
Lieber Bruder! Mir geht es vorderhand nicht allzu schlecht. – müssen schnell wieder weiter!
4. Sept. 14
Habe jetzt Euren lieben Brief erhalten und werde euch, sobald wieder Post weg geht, weiteres schreiben, das meiste kann ich nur, wenn ich wieder nach Hause komme erzählen, worauf ich mich schon riesig freue; vielleicht dauert’s doch nicht mehr allzu lange. Tut´s euch meinetwegen nicht allzu viel sorgen, denn im Vergleich zu den anderen geht’s mir doch ziemlich gut, aber es hat Zeiten gegeben, wo es mir noch besser gegangen ist; ich weiß nicht, ob ihr alle Karten erhalten habt. Wichtiges habe ich ja nicht geschrieben.
Unserer lieben Mutter und Dir recht herzl. Grüsse
Euer Romed.
E 106 Postkarte (Feldpostkorrespondenzkarte)
Poststempel vom 12.09.1914, k.u.k. 4. T.J.R.10. Feldkomp.
Romedius Ebner, Assistenzarzt 4. Tirol. K.J.Rgt. 3. Bain., Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Schlanders, Tirol Vintschgau
“Bärtig und schlank sind wir beide geworden”
Der nächste Brief, der erhalten ist, datiert erst einen Monat später. Es ist Mitte September und Romedius wird ungeduldig. Wie die meisten geht er davon aus, dass die Sache – er meint den Krieg – vor Weihnachten vorbei sein sollte.
20. Sept. 14
Meine Lieben!
Es ist heute der erste Rasttag seit Begin[n] des Feldzuges; aber wahrscheinlich geht’s Nachmittag trotz des Regens wieder weiter. Ich hätte mich ganz gut in einem polnischen Bauernhäuschen einquartiert und mir auch schon Milchreis und andere Raritäten gekocht, um mich für den Entscheidungsschlag wieder zu stärken. Insofern ging es wieder besser. Der Belligoi lebt auch noch, aber bärtig und schlank sind wir beide geworden. Wie geht’s den[n] Euch im[m]er. Lasst’s doch wieder einmal was hören. Wie steht den[n] die Sache in Tirol? Ich wäre schon sehr froh, wen[n] bis Ende Oktober oder Mitte November die Sache erledigt wäre; die Deutschen werden’s schon machen.
Auf einen guten Ausgang hoffend grüßt Euch herzlich
Euer Romed.
E 098 Feldpostkarte
Poststempel vom 21.09.1914, k.u.k. Feldpostamt 98, k. und k. 4. Regiment der Tiroler Kaiser Jäger 12. Feld-Kompanie
Romedius Ebner, Assistenzarzt, 4. T.K.Jg.Rgt. 3. B., Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Schlanders Tirol Vinschgau
“Der Magen wird auch schon ein bisschen empfindlich”
Im Brief an seine Mutter spürt man Unmut – es ist nicht nur der Magen, der verstimmt ist.
25. Sept. 1914
Liebe Mutter!
Gott und die Deutschen werden uns helfen und so wird es wohl auch hoffentlich nicht mehr lange dauern kön[n]en; in ganz kurzer Zeit muß der große rußische Schlag und damit die endgültige Entscheidung erfolgen. Ich hoffe, daß ihr beide wohl auf seid; mir geht es im allgemeinen nicht schlecht; nur den Verlust meines Pferdchens hab ich noch nicht verschmerzt, zumal ich jetzt diese entsetzlich tief kotigen Wege zu Fuß machen muß. Der Magen wird auch schon ein bisschen empfindlich. Einige Wochen wird er’s noch aushalten.
Mit herzlichen Grüßen Euch beiden!
Euer Romed.
E 103 Feldpostkarte
Poststempel vom 27.09.1914, k.u.k. Feldpostamt 98, k. und k. Regiment der Tiroler Kaiser Jäger 12. Feld-Kompanie
Romedius Ebner, Assistenzarzt, 4. T.K.Jg.Rgt. 3. B., Feldpost 98, an seine Mutter Barbara Knoll, Schlanders Tirol, Vintschgau, bei Herrn Kaufmann Jos. Pegger
“… zu einem selbst gekochten Milchreis ecc.”
Ende September klingt der Krieg sehr allgemein und der Schlusssatz versprüht Optimismus.
28. Sept. 14
Lieber Bruder!
Gestern Abends Euren liebevollen Brief erhalten; herzl. Dank dafür. Zeitweise geht es jetzt in manchen Punkten (Verpflegung, Feldpost ecc.) etwas besser. Im allgemeinen die alte Wurstlerei, die hoffentlich bald ein Ende nehmen wird. Komme jetzt öfter mit Schlauch zusammen, zu einem selbst gekochten Milchreis ecc.
Bald werden die entscheidenden Kononen donnern.
Herzl. Grüsse Euch beiden
Romed.
Schlauch
E 107 Feldpostkarte
Poststempel vom 28.09.1914, k.u.k. Feldpostamt 98, k. und k. 4. Regiment der Tiroler Kaiser Jäger 12. Feld-Kompanie
Romedius Ebner, 4. T.K.Jg.Rgt. 3. B., Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Statth. Konzpst. Bez. Hptmsch. Schlanders Tirol Vinschgau
“Ich lechze nach einem kräftigen Schluck Tirolerwein”
Plötzlich ist nicht nur Oktober, sondern erstmals lesen wir etwas genauere Schilderungen und von Kriegsdetails, die uns Romedius bislang verwehrt hat.
6. Okt. 14
Lieber Bruder!
Heute waren wir in einem galiz. Städtchen einquartiert, das teils von eigenen Truppen teils von Kosaken vollständig ausgeplündert wurde; gestern seien hier noch Kosaken gewesen; mit den Marschbattalionen sind auch einige Bekannte bei unserem Regiment eingetroffen, der kleine dicke Wassermann, Vinatzer, Tiefentaler-Wirt.
Infolge der Ausplünderung steht unser Wohlbehagen etwas im argen; nicht das geringste an “Genuss”-Mitteln ist zu bekommen; ich lechze nach einem kräftigen Schluck Tirolerwein, denn dieses Wasser ist immer noch meine schwache Seite. Heute hab ich mich im Familienzimmer des Bürgermeisters von Przeclav bei Tarnow einquartiert, und mein Diener kocht mir gesottene Kartoffel u. Tee ohne Rum u. Zucker. Ist die Schlacht vor Paris noch nicht vorüber? Ansonsten bin ich gesund.
Herzliche Feldzugsgrüsse Dir u. der Mutter.
Euer Romed.
E 100 Postkarte (Feldpostkorrespondenzkarte)
Poststempel vom 13.10.1914, k.u.k. Feldpostamt 98
Romedius Ebner, Assistenzarzt 4. Rgt. T. K. Jg. 3. B. Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Schlanders, Tirol Vintschgau
“Der November wird wohl noch vorübergehen…”
Ebenfalls im Oktober schickt Romedius einen langen Brief an seine Mutter, in der er ihr die Lage vor Ort schildert. Waren bislang ein fehlendes Reitpferd oder Mangel an Tiroler Wein die größte Sorge in Romedius’ Briefen, so schreibt er nun erstmals von Schwarmlinie, feindlichen Kugeln und Artilleriegeschoßen. Und an seine üblichen “Herzliche Grüße” hängt er diesmal noch einen ausdrücklichen Wunsch an.
27. Okt. 1914
Liebe Mutter!
Jetzt machen sich, besonders in manchen galizischen Orten, bereits die Folgen des Krieges in trauriger Weise bemerkbar; Tirol wird sie noch recht gewahr werden, wenn die kümmerlichen Überreste der nicht so mächtigen Tiroler Regimenter wieder nach Hause kommen. Hier müsste die Bevölkerung verhungern, wenn nicht ärarisches Mehl verteilt würde. Kein Handvoll Zucker und kein Handvoll Salz in der ganzen Stadt. Die kleinen Kinder keinen Tropfen Milch.
Unsere Verpflegung fürwiederum ist zur Zeit ganz gut. Wir sitzen jetzt schon einige Zeit am San (in der Nähe der Weichselmündung), die Russen auf einige hundert Schritte gegenüber, beide in die lehmige Erde eingegraben, wo den Soldaten durch Laufgräben das Essen zugetragen wird, und wo sie oft mehrere Tage und Nächte verbringen, bis sie zu einer kurzen Rast in der halbzerschossenen Stadt, von der ich euch schon geschrieben habe, abgelöst werden.
Heute habe ich auf Anordnung des Brigadekommandos meinen Hilfsplatz bis ganz nahe an die Schwarmlinie vorgeschoben; die feindlichen Kugeln, die des Abends immer zahlreicher werden, schlagen vor unseren kleinen Häuschen, in dem wir uns niedergelassen haben, ein. Ich bin sie schon so gewohnt, daß ich mich gar nicht mehr umschaue, wenn neben mir eine einschlägt.
Im Gegensatze zu diesem Säuseln und Pfeifen der mitunter so ruchlosen Kugeln erfüllt mich der unheimliche Metallklang der Artilleriegeschosse mit Ungemütlichkeit; doch scheint zum Glücke der armen Kerle, die es treffen würde, auf beiden Seiten Munitionsmangel zu herrschen, der November wird wohl noch vorübergehen. Ich fühle mich sonst andauernd wohl, trotzdem ich mich oft über vieles ärgern sollte. Euch beiden herzliche Grüße!
Hoffentlich geht die heutige Nacht nicht allzu blutig vorüber!
Romed.
E 165 Brief (Doppelblatt)
Romedius Ebner an seine Mutter Barbara Knoll
“so könnten wir monatelang wie die Maulwürfe einander gegenüberliegen”
Zwei Tage später ergeht ein ähnlicher Bericht an den Bruder.
29. Okt. 1914
Lieber Bruder!
Meine Zahl. für November (300 Kr.) habe ich an Dich adressieren lassen, damit ich nicht soviel mit mir herumtragen muß; sei so gut und lege sie mir in Schlanders ein. Ich bekom[m]e zwar zweitweise einige Reichspost-Num[m]ern, die ich abbon[n]iert habe, aber im[m]er um 14 Tage später; wen[n] nicht bald von Paris oder Warschau aus eine Entscheidung kom[m]t, so kön[n]ten wir noch monatelang hier am San (Roswradow) wie die Maulwürfe einander gegenüberliegen, wen[n]s nicht allmählich am nöthigen Soldaten-Materiale mangeln würde. Die mondhelle Nacht ist erfüllt von dem Knattern der Gewehre, deren Kugeln sich bis zu unserem Häuschen verirren und dem Aufblitzen und dumpfen Rollen der Kanonen und schweren Haubitzen. Habe schon längere Zeit kein Schreiben von Euch erhalten.
Herzliche Grüße Romed.
E 093 Postkarte (Feldpostkorrespondenzkarte)
Poststempel vom 30.10.1914, k.u.k. Feldpostamt 98
Romedius Ebner, Assistenzarzt, 4. Rgt. T. K. Jg. 3. B. Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Schlanders, Tirol Vintschgau
“Jedenfalls wird der Krieg noch längere Zeit dauern”
Romedius schätzt die weitere Kriegsdauer nun realistischer ein, und wirkt dabei gleichzeitig optimistisch. Vielleicht weil er nun wieder “ein Pferdchen” hat, nachdem er – seinem Brief im September zufolge – gut eineinhalb Monate ohne Reitpferd auskommen musste.
11. Nov. 14
Lieber Bruder!
Herzlichen Dank für Eure lieben Briefe, auf die ich mich schon lange sehnte und aus denen ich mit Freude entnahm, daß es Euch gut geht. Ich bin mit meinem Befinden auch ganz zufrieden, zumal ich seit einigen Tagen wieder ein Pferdchen habe. Wie die Situation jetzt steht, dürftest du schon so ziemlich erken[n]en, aber ich glaube, es wird sich schon noch was machen lassen; jedenfalls wird der Krieg noch längere Zeit dauern. Was macht Rumänien? Wir werden vielleicht endlich einmal aus Galizien fortkom[m]en, der Winter wird schon vorübergehen. Zeitung habe ich von dir keine erhalten, es funktioniert in so kritischen Wochen die Post nicht.
Herzliche Grüße Dir u. der Mutter und den Hausleuten.
Romed.
E 096 Postkarte (Feldpostkarte)
Poststempel unleserlich, k.u.k. Feldpostamt 98
Romedius Ebner, Assistenzarzt 4. T. Jg. Rgt. 3. B. Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Schlanders, Tirol, Vintschgau
“wegen Blähhals mit starken Athembeschwerden”
Vier Tage später schreibt Romedius erneut an den Bruder, vor allem weil er fürchtet, dieser könnte (trotz Freistellung aufgrund eines Kropfes) doch noch einrücken müssen.
15. Nov. 14
Lieber Bruder!
Von Offizieren, die jetzt von Tirol wieder zu uns eingerückt sind, habe ich erfahren, dass jetzt Nachstellung für alle bisher Militärbefreiten stattfindet. Du wirst wohl unter allen Umständen dich frei halten, zumal Du in Deiner jetzigen Stellung der Sache mehr dienen kannst und es dir jetzt durch die Bez[irks] H[au]ptmannschaft leicht sein muss frei zu bleiben weg[en] “Blähhals mit starken Athembeschwerden”.
Die gute Mutter wäre sonst ganz allein und ich wäre in ständiger Besorgnis. Wir haben uns jetzt wieder einige Tage erholt und sind (Weichselrichtung bis Krakau) sehr gut mit allen möglichen Esswaren (Chokolade ecc.) versorgt worden. Mehlspeisen und ein Glas Tirolerwein gibt´s hier im Felde leider nicht, wohl hat mir gestern ein Offizier, den ich am 28. Aug. verbunden habe, und der wieder zu uns eingerückt ist, eine Flasche Traminer gebracht. Die hat es gestern schon glauben müssen. Die Reichspost, die ich abboniert habe, erhalte ich bei Raststationen sehr fleißig, gestern eine Nummer von vor 4 Tagen. Du könntest vielleicht so gut sein und an die Redaktion (Wien VIII. Strozzigasse 8) gelegentlich eine Karte schicken und schreiben, daß man vorderhand dir die Rechnung schicken möge, da ich von hier kein Geld weg schicken kann. Hast du meine 300 Kronen erhalten?
Jetzt scheint erst der Krieg in den Kolonien loszugehen, da können wir noch lange auf einen Friedensschluss warten. Sollte unser Feldpostamt 98 für Pakette wieder zugänglich werden, so bitte ich nur vor allem 1 Paar große, warme Handschuhe zu schicken (größer als 350 gr. darf scheints so ein Päkttchen nicht sein) mit dem übrigen wäre ich vorderhand ganz gut versehen. Starke Schuhe täte ich brauche, aber das lässt sich auch schwer durchführen. Der arme Schlauch hat nicht einmal Handschuhe! Ich würde ihm dann meine alten geben, wenn er nicht vorher in ein Spital abgeht. Mir geht es sonst ganz gut; habe gestern mich und mein zusammengeschrumpftes Battallion gegen Cholera geimpft. Schreibe mir bald wieder und berichte mir, was es Neues gibt.
Dir und der Mutter herzliche Grüße!
Euer Romed.
Auch an die Hausleute und übrigen Bekannten beste Grüße!
E 101 Brief (Kuvert, Doppelblatt, Einzelblatt)
Poststempel vom 20.11.1914, k.u.k. Feldpostamt 98
Romedius Ebner, Assistenzarzt 4. T. Jg. Rgt. 3. B. Feldpost 98, an seinen Bruder Hans Ebner, Schlanders Vintschgau, Tirol
“Ein Hemd, eine Unterhose und einige Taschentücher könnte ich wohl brauchen…”
Es wird Dezember und Romedius schreibt wieder einen ausführlichen und zudem bewegenden Brief an seine Mutter.
Feldspital 4/14, am 7. Dez. 1914
Liebe Mutter!
Herzlichen Dank für Euren Brief; mein mitunter eilfertiges Schreiben müßt Ihr entschuldigen, da ich oft in aller Eile, wenn gerade ein Briefbote zur Hand ist, einen Feldgruß nach Hause sende.
Die Situation steht hier ganz gut (vorderhand […]). Wir haben die Russen, denen besonders zu die zu unserer rechten Seite einzuziehende deutsche Division viele Tausende von Gefangenen […] über die schönen Karpathen-Höhen vertrieben und unsere Artillerie fährt gerade bei dem kleinen Häuschen vorbei um sie zu verfolgen, in dessen dunkler und kleiner Küche wir den Operationssaal unseres Feldspitales einrichteten.
Alles ist schon vorausgezogen, nur der Feldkaplan und ich sind noch als letzte zurückgeblieben, um den sterbenden Jägerhauptmann im Nebenzimmer nicht allein zu lassen. Während draußen das dumpfe Grollen des Geschützdonners sich mit dem Tohne des Nordwindes vermischt, sitzen wir beide still bei dumpfen Kerzenschein in der verlassenen Küche. Vom berüchtigten nordischen Winter haben wir bis jetzt noch nicht viel gespürt, weder Schnee noch besondere Kälte war uns bisher beschert; zwar die tapferen Jäger, die in der Nacht dem Feinde auf freiem Felde gegenüberliegen, die haben die Kälte schon gespürt, die übrigens von den Russen nicht um ein Haar besser vertragen wird als von unseren Leuten, die jetzt ganz gut ausgerüstet daherkommen; von den alten Feldsoldaten, die im Sommer ausgezogen sind, dürften ohnedies nicht mehr viele da sein.
Unser Freund Belligoi liegt verwundet im Reserve Spital in Bielitz; ich hab ihn schon für gefangen gehalten, denn seine Kompanie ist fast gänzlich in russische Kriegsgefangenschaft geraten vor Krakau. Nachträglich erfuhr ich von Bachlechner, daß ihn eine Schrapnellkugel getroffen habe. Platter Frz. und Berger sollen auch marod in irgendeinem Spitale sein. Bezüglich der Wäsche bin ich für das Wichtigste schon versehen. Ein Hemd, eine Unterhose und einige Taschentücher (und ein Zahnbürstl) könnte ich wohl brauchen, da mein Koffer so weit zurück und noch beim Regiments-Train ist, daß man viele Wochen nicht dazu kommen kann.
Wir haben unsere wichtigsten Sachen in Rucksäcken, die wir mit den D[…] auf einem unserer Wägen auflegen beim Weitermarsch. Aus der Reichspost habe ich ersehen, daß Stadt und Festung Belgrad in unserem Besitze ist. Wie die Sache in Frankreich steht, wird noch weniger bestimmt erscheinen können, obzwar die Franzosen auch schon völlig erschöpft sein müssen. Die Russen werden noch an unserer Hartnäckigkeit zum Falle kommen.
Das gebe Gott!
Mit herzlichem Gruße Euch beiden
Romed.
8. Dez.
Heute wieder massenhaft Gefangene gemacht. Unsere Leute eilen im Sturmschritte den Russen nach. Eine Patroille von 2 Mann bringt gleich über 100 Russen zurück. Auf diese Weise könnte es noch gehen.
Romed.
E 083 Brief (Kuvert und zwei Doppelblätter)
Poststempel vom 09.12.1914, k.u.k. Feldspital 4/14
Romedius Ebner an seine Mutter Barbara Knoll, bei Herrn Kaufmann Josef Pegger in Schlanders
“Die Sache scheint sich mächtig in die Länge zu ziehen”
Mit diesem Schreiben vom 15. Dezember 1914 (und Romedius’ vager Ahnung, dass er sich mit seinen ursprünglichen Schätzungen zu einem baldigen Friedensschluss mächtig verschätzt haben könnte) endet die Serie seiner Feldpostbriefe. Der Krieg wird noch bis November 1918 dauern.
15. Dez. 1914
Liebe Mutter!
Heute herrscht wieder ganz ungewohnte Ruhe; die Russen ziehen sich offenbar hier zurück. Wir leben hier in Lapanow ganz gemütlich; soeben ist die Zeitung von vorgestern eingetroffen. Die Sache scheint sich mächtig in die Länge zu ziehen.
Euch beide herzlich grüßend,
Romed.
E 001 Postkarte (Motiv: Krakow)
Poststempel vom 19.12.1914, k.u.k. Feldpost 98
Romedius Ebner, Assistenzarzt, Feldspital 4/14, Feldpost 98, an seine Mutter Barbara Knoll, b. H. Kaufmann Jos. Pegger
Der Michiler
Eine Hommage an einen Alleskönner.
Eine Hommage an einen Alleskönner.
Von Hans Schwarz
Meine erste Begegnung mit einem Doktor, an die ich mich erinnern kann, war eine Visite beim Michiler in St. Martin. Dieser Michiler, mit richtigem Namen Alois Pichler, auch Michile Luis genannt, war einer der bekanntesten Passeirer seinerzeit und gleichsam als Arzt ohne Studium und Titel weitum geschätzt. Mein Vater kannte den Luis sehr gut und hatte großes Vertrauen zu ihm und seiner Heilkunst. So begleitete er mich als Kind 1950 wegen eines Hautproblems nicht etwa zum Gemeindearzt Dr. Wallnöfer, sondern eben zum Michiler. Dieser wohnte im Außerdorf oberhalb der Dorfstraße im alten Festlhaus (heute Dorfstraße 19).
Ich erinnere mich noch, wie sich dieser alte freundliche Herr in seiner Stube meinen entzündeten Unterarm ansah. Er nahm eine Salbe aus einem Taatl (Schublade) und sagte zum Vater: A Woche lång jeedn Toog uënmåll schmirbm (einreiben). Dann unterhielten sich beide noch längere Zeit, bis der Vater ein paar Lire auf den Tisch legte und mit mir nach Hause ging.
Bei einem Gespräch im MuseumPasseier ging es vor einiger Zeit um Passeirer Persönlichkeiten, die kaum bekannt sind. Da fiel mir spontan der Michiler ein. Aber wo und wie könnte ich etwas über ihn erfahren? Er war ja schon 1954, also vor bald 70 Jahren, verstorben.
Ich hatte Glück. Die zwei Zeitzeugen Max Karlegger (Plåtzer Max, Sohn von Michilers Tochter Anna) und Oswald Egger-Karlegger (Schaiber Oswald, Ehemann von Michilers Enkelin Maria), beide Jahrgang 1929 und zur erweiterten Michile-Familie gehörend, konnten mir einiges über den Luis erzählen. Michilers Enkelin Rosa Pichler (Tochter seines Sohnes Luis) stellte mir wertvolle private und amtliche Dokumente und Fotos zur Verfügung. Tobias Egger-Karlegger, Jungbauer auf Brantleit, versorgte mich mit historischen Zeitungsartikeln und Fotos. Judith Schwarz stöberte in den Tauf-, Heirats- und Sterbebüchern und fand weiters musikalische Zeitzeugnisse und Aufnahmen. Von Harald Haller bekam ich wertvolle mündliche und schriftliche Infos und Hinweise zu den Michilern, u.a. Rezepte.
Der Michiler ist das letzte Glied einer Passeirer Bauerndoktor-Dynastie. Diese beginnt mit dem Ururgroßvater Matthias (Matthäus) Pichler, geboren am 01.09.1710. Er lebte in der Mörre und war mit Maria Mangger aus Gomion verheiratet. Matthias, auch als Mërrer Hiës erwähnt, war ein geschätzter Bauerndoktor, viele suchten bei ihm Hilfe für Vieh und Mensch. Laut Überlieferung soll er 1739 von einem unbekannten jungen Mann ein Marienbild gekauft haben. Wegen seiner Heilkunst und des Gnadenbildes kamen immer mehr Leute auf die Mörre, so dass der Hias 1750 eine kleine Marienkapelle baute, die zweimal erweitert wurde. Das heutige Kirchlein wurde 1848 errichtet.
Die Kunst des Heilens gab der Mërrer Hiës an seinen Sohn weiter. Benedikt Pichler, geboren 1752 und verheiratet mit Maria Heel, wiederum gab sie seinem Sohn Michael weiter. Dieser Michael Pichler, geboren 1782 auf der Mörre, war dreimal verheiratet. Über die zweite Frau Anna Oberprantacher wurde er Inhaber der Krämerei im Kurzerhäusl in St. Martin, also Krämer von Beruf. Im Meisterbrief vom 15. Juni 1818 wird vom Landgericht Passeier bestätigt, dass Michael die Schlosser- und Büchsenmacherkunst erlernt und zur Zufriedenheit des Publikums ausgeübt hat.
Mit Michael Pichler begann wohl die Familienbezeichnung Michiler. Bekannt ist die Michilepixe, ein Perkussionsgewehr, mit der Aufschrift „Hindurch in Jesu Namen ist der beste Anfang Amen“. Am Metallknauf der Mörrer Kirchentür sieht man heute noch die Initialen „18MP48“. Auf Gadenacker, einem vom Schildhof Buchenegg abgetrennten Hof, wurde Michael um 1835 Vormund des minderjährigen Erben Johann Hafner und erwarb das halbe Fischereirecht des Hofes. Er muss ein handwerklich geschickter Mensch, ein geschätzter Bauerndoktor und umgänglicher Zeitgenosse gewesen sein. Er starb 1850.
Auf Michael Pichler folgt Alois Pichler (1833–1908). Dieser scheint laut Kaufurkunde vom 12.10.1886 als Käufer des Schmiedhäusl zu Eis, das spätere Michile-Häusl, neben dem Eiserer Hof auf. In einem Schreiben der Gemeinden Schenna, Algund, Marling und St. Leonhard vom 04.04.1885 wird in einer für damals typischen Amtssprache bestätigt, dass Alois den Beruf des Büchsenmachers ausübt und als Bauerndoktor, dank seiner von Natur angeborenen und von seinem Vater und Großvater ererbten Kenntnisse in der ärztlichen Heilkunde, mehrere Personen von äußerlichen und innerlichen chronischen Leiden durch gute Ratschläge und mitunter Anwendung von “unschuldigen Hausmitteln” geheilt hat. Es wird betont, dass er für die körperlich leidende Menschheit nicht aus Eigennutz oder Gewinnsucht, sondern aus Mitleid wohltätig gewirkt hat. Auch die Zeitung „Der Burggräfler“ berichtet in der Ausgabe vom 14.03.1908 vom Todesfall des weit und breit bekannten Bauerndoktors Alois Pichler, vulgo Michile Luis.
Dessen gleichnamiger Sohn, unser Michiler, kam am 2. März 1870 zur Welt. Die Kindheit verbrachte er bei den Eltern Alois und Agatha Raffl im Michile-Häusl beim Eishof. Es ist anzunehmen, dass er sich schon in der Jugendzeit besonders für Tiere interessierte. Im Jahre 1900 erwarb er nach dreijähriger Lehrzeit beim Fleischhauer Johann Götsch in St. Martin das Lehrzeugnis „vorschriftsmäßig durch Fleiß und Arbeitsamkeit“. Oswald Egger-Karlegger weiß, dass er ein Jahr lang mit einem Tierarzt im Sarntal unterwegs gewesen sein soll. Auf einem Heimatschein von 1901 wird bestätigt, dass Alois Pichler, Thier-Arzt, in St. Martin das Heimatrecht besitzt. Auch in einem Protokoll des k.k. Gemeindeschießstandes von 1906 scheint er als gewählter Oberschützenmeister unter dem Namen Alois Pichler, Tierarzt auf. Luis muss demnach Ansehen und Ruf eines Tierarztes gehabt haben.
Eine große Passion hatte der Luis für das Schützenwesen. Der gerade erwähnte Gemeindeschießstand von St. Martin lag ihm besonders am Herzen. Als Oberschützenmeister organisierte er mit seinem Ausschuss größere Fest- und Freischießen. Erwähnenswert ist jenes im Herbst 1910 zu Ehren der Fürstin Metternich-Sandor, der Enkelin des ehemaligen Staatskanzlers; ein historisches Foto zeigt die Martiner Schießstandsvorstehung mit den von der Fürstin gestifteten Bestgaben.
Michile Luis war auch einer der Gründungsväter der 1924 neu gegründeten Schützengesellschaft für Passeier. Aus den Schützengesellschaften St. Leonhard, St. Martin, Platt, Moos und Rabenstein wurde per königlichem Dekret die „Società consorziale di Tiro a Segno Nazionale“ mit Sitz in St. Leonhard. Mit 30 Jahren heiratete er Christine Pfitscher aus Rabenstein. Acht Kinder entstammten dieser Ehe: die Söhne Luis, Sepp und Franz und die Töchter Anna, Rosa, Christine, Maria und Theresia.
Der Michiler als Familienvater.
Foto 1: In der vorderen Reihe die Töchter Anna, Rosa, Maria, Christine und Theresia sowie die Ehefrau Christine Pfitscher. In der hinteren Reihe stehend von links die Söhne Alois, Josef und Franz. Fotosammlung: Tobias Egger-Karlegger.
Foto 2: Die Familie Pichler am Brantleithof in St. Leonhard, um 1915. In der hinteren Reihe von links: Franz, Theresia, die Magd Maria Ploner (1898–1918, die Nichte von Christine Pfitscher, der Ehefrau vom Michiler), Anna und Alois Pichler. In der vorderen Reihe Christine, die Großmutter Anna Pöhl Wwe. Pfitscher (Schwiegermutter vom Michiler, 1839–1922), Rosa, Christine Pfitscher und Maria. Fotosammlung: Helga Holzknecht.
Foto 3: Der Michiler mit (vorne links) den Töchtern Rosa und Maria, sowie der Ehefrau Christine. In der hinteren Reihe von links die Kinder Anna, Alois, Franz, Christine und Josef (?). Das Foto stammt aus der Zeit um 1920. Fotosammlung: Helga Holzknecht.
Ein zentraler Punkt in Michilers erster Lebenshälfte war die Jagd. Sie muss eine echte Leidenschaft von ihm gewesen sein. Im Jagdpachtvertrag vom 19.11.1903 mit der k.k. Forst- und Domänen-Direktion in Innsbruck erwarb er für 13 Jahre das Recht der Ausübung der hohen und niederen Jagd auf dem hochalpinen Gebiet zwischen Wanserjoch und Hochalpspitz, insgesamt fast 300 ha Jagdgebiet. Spätestens jetzt kann man davon ausgehen, dass der Luis beim Umgang mit Behörden kein Problem hatte.
Mit dem Jagen war es vor Weihnachten 1912 dann plötzlich vorbei. Er und sein Begleiter hätten bei einem schrecklichen Jagdunfall in Pfistrad beinahe ihr Leben verloren. Der „Tiroler Volksbote“ vom 20.12.1912 berichtete: Der weitbekannte Tierarzt und Pächter zu Brantleit Alois Pichler ist in Vistrat auf der Gemsenjagd verunglückt. Während er saß und mit dem Fernrohr auf die Höhen schaute, rutschte ihm das Gewehr über die Füße hinab, entlud sich und der Schuß ging ihm mitten durch den obersten Teil des Oberschenkels. Hirten trugen den Schwerstverletzten nach Hause. Wenigstens das Blut konnte Luis selbst stillen.
Dës iberlepp er nit, sollen seine Angehörigen gesagt und seine Wunde mit Këssl foll Gramillntee gewaschen haben, weiß Oswald Egger-Karlegger zu erzählen. Der Gemeindearzt Diem verarztete den Michiler bestmöglich. Luis überlebte ohne Krankenhausaufenthalt und das ganze Tal freute sich darüber, stand im „Volksboten“. Sein rechtes Bein blieb allerdings 4 cm kürzer als das linke. Mit der Jagd im Hochgebirge war es natürlich vorbei, doch Hasen, Füchse, Rehe, Hühner und anderes Kleinwild mussten sich weiterhin vor ihm in Acht nehmen. Er isch a krumper iberåll hinkemmin unt nit lengsummer giweesn“, meint Oswald, der ihn später öfters begleitete.
Luis muss um die Jahrhundertwende geschäftlich recht umtriebig gewesen sein. So scheint er beispielsweise 1904 auf einer Rechnung mit eigenem Logo als Holzhändler auf. Er verkaufte einem Mailänder Händler Holz für 737 Kronen. Außergewöhnlich und manchmal riskant war seine Tätigkeit als Käufer, Verkäufer oder Ersteigerer von Höfen, Liegenschaften, Parzellen, Nutzungsrechten. Diese begann mit dem Kaufvertrag vom 5. März 1898, laut dem er von seinem Vater das Schmiedhäusl zu Eis gegenüber von St. Martin nebst Stadel, Stall und Garten um 1.000 Gulden kaufte. Ab 1915 erwarb er Liegenschaften in Fartleis, unter anderem Hühnerspiel, im Ausmaß von 388 ha. Diesen Besitz wird er später seinem Sohn Luis übergeben. 1916 kaufte er nach ein paar Jahren Pacht den Brantleithof in St. Leonhard.
Das nötige Kapital für seine Geschäfte verschaffte er sich durch Kredite und Holzschlägerungen im Brantleiter Wald. 1.000m³ sollen es einmal laut Oswald Egger-Karlegger gewesen sein. Es war ein riesiges Unterfangen, diese Menge Baumstämme mit allen weitum zur Verfügung stehenden Pferden zur Straße zu transportieren. Zudem sei – so die Erinnerungen von Oswald Egger-Karlegger – bis Josefitag kein Schnee gefallen, sodass die Baumstämme erst ab März auf die Straße gezogen werden konnten.
In diese Zeit fällt auch der tragische Tod seines Sohnes Sepp, für den Vater ein schwerer Schicksalsschlag. Durch Unvorsichtigkeit seitens einiger Ziegenhirten entwickelte sich im Brantleit- und Widumwald aus einem Lagerfeuer ein Waldbrand. Sepp, vorher schon gesundheitlich angeschlagen, starb 1921 20-jährig an Rauchvergiftung. Der Brand wurde übrigens erst nach zwölf Monaten endgültig gelöscht. 1937 verkaufte der Michiler den Hof seinem Schwiegersohn Martin Karlegger (Stiirschnaider Martl). 1928 hatte er den Schildhof Steinhaus ersteigert, 1936 aber wieder an das Ente di Rinascita per le Tre Venezie verkauft. Dann zog es ihn geschäftsmäßig ins Dorf St. Martin, er kaufte das Gasthaus Lamm und war mehrere Jahre lang “Mitterwirt”, bis er seine beiden Töchter Maria und Christine dort als Erbinnen einsetzte.
Der Michiler auf verschiedenen Porträtfotos. Fotosammlungen von: Helga Holzknecht (Foto 1, 3, 5), Rosa Pichler (2), Tobias Egger-Karlegger (4), Referat Volksmusik in der Landesdirektion Deutsche und ladinische Musikschule Bozen (6).
Das Militär spielte beim Michiler nur eine So-nebenbei-Rolle. 12 Jahre, von 1900 bis 1912, diente Luis beim Landesschützenregiment Bozen II „treu und ehrenhaft“ und beendete den Wehrdienst (eine Art Dienst auf Abruf im Kriegsfall) als Unterjäger. Seine Beinverletzung verhinderte die Einberufung im 1. Weltkrieg.
Handwerklich blieb der Luis in der Spur seiner Vorfahren: fleißig und geschickt. Das Büchsenmachen war bei den Michilern ja Tradition. Er spezialisierte sich auch auf das Herstellen von kunstvollen Messern (sogenannte Michile-Messer), Büchsenschäften und Messergriffen aus Reh- und Hirschgeweih. Wenn man ihn charakterisieren will, darf man seine Geselligkeit und Liebe zur Musik nicht vergessen. Er lernte das Geigenspiel beim Tallner Jörgl und bei Anton Raffl auf Tall und spielte in der alten Tallner Musikkapelle die Viola.
Der Michiler als Musikant. Im ersten Foto sitzend mit Basstuba (Fotoarchiv: Tobias Egger-Karlegger). Im zweiten Foto als Gründer, Namensgeber und Mitglied der Michile Muusig mit zwei Hahnfedern am Hut. Von links: Alois Schiefer, Alois Pichler, Leonhard Haller, Martin Schiefer, Josef Pichler, Ignaz Pfitscher (Fotoaufnahme anlässlich der Tonbandaufnahmen durch Alfred Quellmalz im Winter 1941/42 in St. Martin in Passeier, Quelle: Referat Volksmusik in der Landesdirektion Deutsche und ladinische Musikschule, Bozen).
Er komponierte sogar selber und gründete die Martiner Kapelle, auch als Michile-Muusig bekannt. Diese bestand aus dem Vorgeiger (Alois Pichler, Michile Luis), dem Violer (Alois Schiefer, Aiserer Luis), dem Sekundgeiger (Martin Schiefer, Aiserer Martl), zwei Begleitgeigern (Josef Pichler, Eggnstuëner und Leonhard Haller, Egger Liërnt) und dem Bassgeiger (Ignaz Pfitscher). Toll muss es geklungen und die Zuhörer*innen auf den Tanzboden getrieben haben, wenn diese Bauern Landler, Polka oder Boarische spielten, wie den Michile Walzer, den Fulfeser Landler, die Weihregger Polka, den Stuenriegler oder den Tallner Tramplan.
Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis des Referates Volksmusik in der Landesdirektion deutsche und ladinische Musikschule, Bozen.
Noch als 80-Jähriger schwang er mit ungebrochener Frische und seltener Geläufigkeit den Geigenbogen. So schrieb der „Volksbote“ vom 09.03.1950 anlässlich der großen Geburtstagsfeier zum 80sten. Luis war auch aktives Mitglied der Mårtiner Plechmuusig, er spielte das Helikon (Basstuba). Politisches Interesse war bei so viel Umgang mit Leuten in schweren Zeiten wie dem 1. Weltkrieg, dem Faschismus, dem 2. Weltkrieg und der Nachkriegszeit sicher reichlich vorhanden. Er war Mitglied des Gemeinderates von St. Leonhard, bis dieser 1926 von den Faschisten aufgelöst und durch einen Podestà ersetzt wurde. 1941 optierte der Michile Luis für das Deutsche Reich.
Wenn es ums Helfen ging, unterschied Luis nicht zwischen Freund und Feind, Optanten und Dableibern. Sogar Deserteure, die bei den Einheimischen Partisanen genannt wurden und einen schlechten Ruf hatten, konnten mit seiner uneigennützigen Hilfe rechnen, wie zum Beispiel der verletzte Deserteur Rudolf Schweigl (Sackler, geb.1925), der sich im Dezember 1944 in den Felswänden oberhalb des Steinwandterhofes im Kalmtal versteckt hielt.
Damit wären wir an dem Punkt, der den Michele Luis weitum so bekannt machte und auszeichnete: der Bauerndoktor mit seinem Wissen um die Krankheiten oder Verletzungen bei Tieren wie bei Menschen und deren Behandlung bzw. Heilung. Er kannte die Heilpflanzen und wusste, was in Natur und Apotheke zu beziehen und wofür heilsam war. Er beherrschte das Blutstillen und hatte Salben, Tinkturen, Extrakte, Pflaster und Pulver für die Behandlung von Brüchen, äußerlichen Wunden, Hautkrankheiten und Scherzen (Flechten), Wundbrand, Muskelschwund, Rheuma, Ischias, Magenleiden, Koliken, Kopfweh und anderen Leiden.
Am bekanntesten und vielfach anwendbar war seine gelbe und schwarze Michile-Salbe. Miër håt der Michiler a amåll wëign di Nerfn kholfn, verriet mir kürzlich die Holzer Anne (Anna Pichler, Jg. 1928) zufällig am Familiengrab der Michiler auf dem Martiner Friedhof. Was verlangte der Luis für seine Behandlungen? Gipschimer hålt eppis oder Sell isch nit asou hoaggl waren seine Antworten auf die Frage: Woos kriëggsche? Er war sehr sozial eingestellt, nahm, was ihm die Leute freiwillig gaben, die einen mehr, die anderen weniger; meistens war er mit den Selbstkosten zufrieden.
Gerne verband er eine Behandlung mit einem Raatscherle. Dabei fielen manche philosophisch klingende und seine Zeit überdauernde Sprüche wie
In Psaier tråggs lai drai gschaide Lait und auhåltn tiënse si moaschtns unter di Ëisl.
Wenns hintn wea tuët, muësche four ummer auhearn!
Leider endete mit dem Michiler die Familientradition der Bauerndoktoren. Sein Sohn Franz wäre als Nachfolger vorgesehen gewesen, doch diesem fehlten wohl Talent oder Interesse.
Woher hatte der Michiler das Wissen um Krankheiten und deren Behandlung? Da hatte er sicher viel Schriftliches wie Rezepte und Mündliches von seinem Vater Alois und seinem Großvater Michael übernommen, beide waren ja angesehene Bauerndoktoren. Er war auch stets in Kontakt mit Gemeindeärzten und Meraner Apothekern. Außerdem interessierten ihn medizinische Bücher. In der Gaststube beim Mitterwirt hatte er gånze Stëiln foll Sålbm und Piëcher, erinnert sich Oswald. Er unterhielt sich besonders gern mit Pater Cölestin Kusstatscher (1916–1999), dem Kooperator von St. Martin und einem exzellenten Kenner von Heilpflanzen. Ebenso unterwegs war er mit dem Medizinstudenten Alois Pichler (Unterwirts Luis), der 1952 leider bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
Zu den Gemeindeärzten hatte er ein gutes Verhältnis. Dr. Ebner, Dr. Mair-Egg und Dr. Wallnöfer sahen in ihm keinen Konkurrenten, sondern einen Heilpraktiker, der sie entlasten konnte. Besonders der Martiner Gemeindearzt Dr. Alois Wallnöfer (1885–1964) hielt viel vom Luis. Bei dessen Geburtstagsfeier zum 80sten pries er laut „Volksbote“ in umfassender und vielsagender Rede das Verdienst und die Wirksamkeit des Passeirers.
Der Luis isch a fainer Mentsch giweesn und nit ungschickt, so beschreibt ihn sein Enkel Max; „Nicht ungeschickt“ bedeutet für Passeirer ein großes Kompliment. Die Leute hatten zum Michiler großes Vertrauen, seine einfache, freundliche und hilfsbereite Art kam bei allen gut an. Sogar aus dem Meraner Raum, aus Ulten, dem Untervinschgau, Sarntal und Sterzing kamen vor allem Bauern, um sich Rat und Hilfe zu holen.
Fotoserie zum Begräbnis des Alois Pichler am 23. November 1954 in St. Martin in Passeier, aus den Fotosammlungen von Tobias Egger-Karlegger, Rosa Pichler und Helga Holzknecht.
Am 23. November 1954 starb der Michile Luis im Alter von 84 Jahren. Seine Frau Christine war ihm sechs Jahre im Tode vorausgegangen. Wie bekannt und angesehen Luis im Tal und darüber hinaus war, zeigte sich bei seinem Begräbnis in St. Martin. Sämtliche Verbände und Vereine und eine unübersehbare Menge von Trauergästen aus ganz Passeier und den Nachbartälern nahmen Abschied von dem damals wohl bekanntesten Passeirer, zuerst in der Kirche und auf dem Friedhof, nach der Beisetzung beim Totenmahl beim Oberwirt, Mitterwirt, Unterwirt und im Schießstand. Treffend steht auf seinem Sterbebild, dass er reich an ärztlicher Kenntnis und Erfahrung, wohltuend und hilfsbereit gegen alle war.
Der auffällige Grabstein der Familie Pichler, ehemals Mitterwirt, am Friedhof von St. Martin in Passeier, Anfang der 1950er Jahre (noch ohne Geburtsdatum von Christine Pfitscher verehelichte Pichler. Foto: Vedovelli, St. Leonhard in Passeier, Sammlung Helga Holzknecht) und 2023 (Foto: Judith Schwarz).
Wer hat noch eine Michile-Salbe daheim? Oder kennt Geschichten zum legendären Bauerndoktor?
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Vergangenes Glück
Mein Opa und seine erste Frau.
Mein Opa und seine erste Frau.
Von Tobias Egger-Karlegger
Wenn dieses Bild in Deine Hände weilt, sols Dich an vergangenes Glück erinnern. So schrieb Maria – oder Moidl, wie sie auch genannt wurde – auf die Rückseite eines Fotos, als Andenken für ihren geliebten Oswald, ihren späteren Ehemann.
Es ist die tragische Geschichte der jungen Maria Karlegger. Ihr Leben war so traumhaft und unbeschwert, jedoch mit nur 25 Jahren endete es viel zu früh. Die Erzählungen meines inzwischen 94-jährigen Großvaters Oswald über seine einst geliebte Ehefrau faszinierten mich stets. Heuer, am 20. Juli 2023, jährt sich das Unglück zum 71. Mal. Anhand der Zeitungsberichte der damaligen Zeit, die nun nach der 70-jährigen Verjährungsfrist digital zugänglich sind, kann ich heute das Geschehen am Unglückstag nachvollziehen und die Erzählungen meines Großvaters belegen. Am Sonntag, den 20. Juli, gegen 8 Uhr früh, ereignete sich auf der Passeirer Staatsstraße bei Kilometer 19.631 ein schweres Verkehrsunglück…, so schrieb die Tageszeitung Dolomiten am 22. Juli 1952. Und genau am Tag dieser Berichterstattung verstarb Maria Karlegger.
Maria ist am 11. Dezember 1927 auf dem Brantleithof in St. Leonhard in Passeier geboren. Sie war die Tochter des Martin Karlegger – Stierschneidersohn aus Stuls und Metzgereibesitzer beim Frickhof in St. Leonhard – und der Theresia Pichler – Tochter des Bauerndoktors Alois Pichler auf Brantleit, besser bekannt als Michile Luis. Maria und ihre Eltern lebten zunächst als Pächter auf Brantleit, bis schließlich im Jahre 1936 Marias Vater den Hof seinem Schwiegervater zu guten Konditionen abkaufte. Zugleich verkaufte er die Metzgerei beim Frick, welche er zusammen mit seinem Bruder Luis besaß.
Die Moidl war sehr begehrt und für die damalige Zeit äußerst modern. Als einziges Kind am Hof, und somit Alleinerbin, rannten ihr die Verehrer nur so nach. Laut Erzählungen kam es sogar vor, dass die Idee zum Fensterln mehreren Burschen gleichzeitig in den Sinn kam und so eine Rauferei entstand, die glimpflich endete. Auch erregte Maria gerne viel Aufsehen, da sie immer schöne Kleider trug und sogar beim Kirchgang in weißen Schuhen zu sehen war, was zur damaligen Zeit nicht üblich war.
Sie wickelte ihren Vater Martl halt stets um den Finger. Und so erhielt sie von ihm immer Geld, um sich etwas Neues zu kaufen. Die Mutter meines Großvaters war an den Rollstuhl gefesselt und so rief sie ihn eines Tages zu sich, um ihm zu raten, er solle nicht mehr zu Moidl gehen: Di Moidl passt nit zi dir, si isch fiil zi modern fi dir. Darauf erwiderte mein Großvater: Ober sëll gfållt miër!
Erinnerung ist die schönste Gabe, die uns begleitet bis zum Grabe, schrieb Moidl auf eines ihrer Fotos. Ende der 40er Jahre lernte sie den um zwei Jahre jüngeren Scheibersohn, Ranggler und Schuhplattler Oswald Egger kennen. Sie begegneten sich das erste Mal im Sommer bei der Heumahd beim Wasserholen im sogenannten Sandwald oberhalb vom Sandhof.
Eine schöne, aber leider nur kurze Zeit verbrachten Moidl und Oswald zusammen. Schließlich heirateten sie am 10. Januar 1952 in St. Martin und feierten gemeinsam beim Scheiberhof. Zur frohen Feier am Heimathof des Bräutigams stellte sich auch die Streichmusik ein, deren Mitglied der Bräutigam ist, und der 82jährige Michele Luis führte zur Hochzeit seines Enkelkindes voll jugendlicher Freude den Geigenbogen, so schrieb die Dolomiten dazu.
Mein Großvater erzählte immer, dass es eine schöne Hochzeit gewesen ist. Über 40 Leute, der Chor und eine Stubenmusik, bei der er Mitglied war, waren gekommen. Am Ende der Hochzeit dankte der alte Dorfbauer Hans Schwarz dem Brautvater Martin für die schöne Feier. Dieser erwiderte, er habe nichts bezahlt. Kuëne Liire håt er gizoolt, so mein Opa.
Das große Unglück passierte knappe sechs Monate nach der Hochzeit. Der Schicksalstag im Juli desselben Jahres war ein gewöhnlicher Sonntag. Nach dem Kirchgang war es üblich, dass man nicht wie heute über den Pichl geht, sondern hinunter zur Hauptstraße, um von dort über Rennwies zum Brantleithof zu gelangen.
An diesem 20. Juli um 7.35 Uhr morgens fuhr die Kolonne der Alpini Gebirgsartilleriegruppe „Susa“ vom Jaufenpass in Richtung Meran. Laut Zeitungsbericht kam der 22-jährige Soldat Tullio Tongi mit seinem Militärlastwagen beim “Brüh-Grübl” von der Straße ab, genau an der Stelle, an der eine Gruppe Kirchgänger*innen unterwegs war. Dabei hat er die schwangere Moidl und ihre Mutter Theresia überrollt. Oswald, der gerade beim Bewässern der Wiesen war, wurde von der Ganderbäuerin vom Nachbarhof alarmiert. Die beiden schwer verletzten Frauen brachte man nach Obermais in die Klinik Dr. Kneringer. Die Mutter erlitt einen Beckenbruch, kam aber mit dem Leben davon. Anders Maria. Sie war nur schwach bei Bewusstsein und hat ihren Ehemann nicht mehr erkannt.
Da ihr Zustand hoffnungslos schien, wurde sie, um in der Heimat sterben zu können, nach St. Leonhard gebracht, so die offizielle Version der Tageszeitung Dolomiten drei Tage nach dem Unglück. Laut den Aussagen meines Opas verstarb Maria jedoch bereits im Krankenhaus an schweren inneren Verletzungen. Um Kosten für Leichentransport und Kirchenabgaben zu vermeiden, konnte die leblose Moidl noch mit einem Krankentransport bis zum Klotz beim Sandwirt gebracht werden. Oswald trug seine Frau gemeinsam mit seinem Bruder Sepp (Schaiber Sepp) und dem Knecht Anton Pixner (Stuëner Toonig) über das Feld bis zum Brantleithof. Auch das ungeborene Kind hat das Unglück nicht überlebt.
Fotos von der Beerdigung von Maria Karlegger am 24. Juli 1952 um 6.30 Uhr bei der Theiskapelle in St. Leonhard. Auch eine Abordnung der Alpini war anwesend. Fotograf: J. Vedovelli, St. Leonhard in Passeier.
Schwere Zeiten standen Oswald bevor. Er war nun mit gerade einmal 23 Jahren Witwer. Der Gerichtsprozess rund um das Verkehrsunglück dauerte fünf lange Jahre. Inzwischen gingen im Dorf Gerüchte um die Nachfolge des Brantleithofes um: Mit den Schaiber wermr schun foorn af Pråntlait, so machte sich der Neid bei den Burschen im Dorf bemerkbar, wie Oswald heute noch erzählt. Einmal musste er sich sogar mit einem Stock gegen einige Männern wehren, die ihm auf dem Nachhauseweg auflauerten. Im Jahr 1954 entschloss sich der Brantleitbauer Martin schließlich, Oswald als Adoptivsohn aufzunehmen, damit er einmal dessen Nachfolge antreten konnte. Dadurch erhielt Oswald den Doppelnamen Egger-Karlegger, den seine Familie bis heute trägt.
1956 heiratete Oswald meine Oma Karolina Hofer. Von den Adoptiveltern wurde die neue Ehefrau nicht gerade herzlich empfangen, weshalb sie für einige Jahre in eine Mietwohnung beim Kolberhäusl und später in eine Wohnung beim Faunerhof einzogen. Lotterin [Bettlerin] kimp af Pråntlait kuëne, so sagte einst der Adoptivvater Martin über meine Oma, worauf mein Opa erwiderte: Når gea i hålt! Natürlich wollte Martl meinen Opa nicht gehen lassen, denn er hatte sonst niemanden, der ihm auf dem Hof half.
Schließlich errichtete Oswald ein Eigenheim für die inzwischen fünfköpfige Familie. Mit dem Schmerzensgeld aus dem Gerichtsprozess und etwas Erspartem kaufte er 1962 ein Grundstück vom Nachbar ab, denn der Adoptivvater Martin überließ ihm keinen Baugrund. 20 Jahre später konnte Oswald den Brantleithof endgültig mit Schenkungsvertrag und einigen Auflagen übernehmen. Martin Karlegger verstarb am 7. Februar 1983 im Alter von 84 Jahren, die Adoptivmutter Theresia war bereits 1974 gestorben. Im Jahr 2004 starb auch die zweite Ehefrau Karolina Hofer nach dreijährigem Wachkoma in Folge eines Asthmaanfalls.
Bis heute lebt Oswald Egger-Karlegger in seinem Haus neben dem Brantleithof. Und erzählt gerne über das vergangene Glück und Unglück mit seiner ersten Frau Maria, von der ihm die Hälfte seines Nachnamens, einige Fotos und die Erinnerungen geblieben sind.
UPDATE 11.10.2023:
Ein interessantes Detail: Moidl und ihre Mutter wollten nach dem Kirchgang noch beim Dürrerhof vorbeischauen, denn zwei Tage vorher, am 18. Juli 1952, ist dort der Sohn von Moidls Freundin Maria Gufler geboren. So erzählte es die Tochter einer weiteren Freundin, Barbara Gögele (geb. 1922).
Der verschollene Fotograf
Ein mysteriöser Passeirer namens Franz Ploner.
Ein mysteriöser Passeirer namens Franz Ploner.
Text und Fotokolorierung: Tobias Egger-Karlegger
Wie es der Zufall so will. Im Sommer letzten Jahres geriet ich an das Bilderarchiv der Familie Ploner, welches ich von einem Familienmitglied im Vertrauen erhielt, um die Fotos ein wenig zu sortieren und zu digitalisieren. Da es sich um zahlreiche Fotos und Postkarten handelte, zog sich die Arbeit über das Jahr hin und eigentlich wollte ich die Fotos schon wieder zurückgeben. Doch immer wieder fiel mir ein markantes Gesicht auf. Als ich die Fotos etwas sortierte, fand ich plötzlich den Namen heraus: Franz Ploner: Obst, Gemüse, Südfrüchte, Landesprodukte u. Kurzwaren steht auf einem Schild. Direkt darunter zu sehen ist wieder dieser große Mann wie auf dem Präsentierteller – unverkennbar.
Seine Fotos in Chronik- und Geschichtsbüchern aus unserem Tal. Versteckt in den Bildverzeichnissen fand ich in verschiedenen Büchern seinen Namen, vor allem bei Bildern aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Ich stellte mir immer wieder die Frage: Wer war dieser Franz? Warum ist er auf so vielen Fotos zu sehen und warum gibt es nur Bilder von ihm in jungen Jahren?
Laut Fotos und Postkarten war Franz schon zu Kriegsbeginn 1914 beim 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger. Er muss damals also zumindest 18 Jahre alt gewesen sein. Der letzte Brief an die Eltern ist von 1918. Daher ist davon auszugehen, dass er bis Kriegsende im Wehrdienst war und somit fast vier Jahre im Krieg.
Das Fotoarchiv der Familie Ploner ist erstaunlich vollständig. Es gibt von fast jedem Familienmitglied Fotos von Kindes- bis ins hohe Alter bzw. auch Sterbebilder. Auf Nachfrage bei den Nachkommen habe ich die Information bekommen, dass der Franz Fotograf gewesen sei, jedoch den Verbleib wisse man nicht genau. Er soll auch mit Schmugglerware hantiert haben.
Wurzeln in Rabenstein. Da mir bekannt war, dass sein Vater Thomas Ploner ein Bergknappe bzw. Grubenaufseher am Schneeberg war, habe ich die Taufbücher der damals noch eigenständigen Gemeinde Rabenstein durchgenommen. Und siehe da, gefunden! Franz Thomas Ploner geboren am 26. Mai 1894 in Rabenstein, Sohn des Thomas Ploner (geboren am 2. Dezember 1853 in Villanders, gestorben am 15. September 1919 in St. Leonhard) und der Theresia Pfitscher (geboren am 23. Oktober 1868 in Rabenstein und gestorben am 21. Juni 1950 in St. Leonhard).
Das Todesdatum von Franz Ploner fehlt im Taufbuch. Auch notierte der Pfarrer nachträglich folgenden Passus: hat die verlorene italienische Staatsbürgerschaft auf Grund des Art. 11 Gesetzesdekret Nr. 23 vom 2.2.1948, wie aus der diesbezüglichen Mitteilung der Präfektur von Bozen Optionen-Revisionsamt hervorgeht, wiedererlangt. Das bedeutet, dass er die Staatszugehörigkeit zu Italien durch die „Option“ im Zweiten Weltkrieg verloren hat und sie durch den entsprechenden Antrag wieder zurückerlangte. Also hat Franz das Land verlassen und ist nach dem Krieg wieder zurückgekehrt.
Familientragödie. Aufgrund mehrerer Familienfotos, reizte es mich, etwas über die Geschwister herauszufinden, um so vielleicht eine Verbindung zu Franz herstellen zu können. Besonders tragisch dabei ist der Tod der ältesten Schwester Maria, die im Hungerjahr 1918 im Alter von 20 Jahren an einer Lungenentzündung (wahrscheinlich der Spanischen Grippe) starb. Zuvor waren bereits ein Bruder (Alois 1892–1893) und eine Schwester (Barbara 1908–1909) im Kleinkindalter nach nur wenigen Monaten verstorben. Laut Sterbebild trat der Vater im Jahre 1909 seine Rente an und kaufte laut Grundbuch im Jahr 1913 das Windeggerhaus in St. Leonhard. Die Familie lebte also von da an nicht mehr in Rabenstein.
Rückkehr aus dem Krieg. Nach vier Jahren Kriegszeit kamen Franz und sein Bruder Alois zurück in die Heimat. Es wird für sie sicher nicht einfach gewesen sein, wieder ein geregeltes Leben zu führen und in der Gesellschaft in St. Leonhard Fuß zu fassen. Hinzu kamen der plötzliche Tod der Schwester Maria im selben Jahr und nicht mal ein Jahr später auch noch der Tod des Vaters Thomas nach langer Krankheit, der vermutlich an einer Staublunge erkrankt war.
Aktives Gesellschaftsleben bei den Umgestülpten. Es scheint, als hätte sich Franz doch ganz gut in der Dorfgemeinschaft von St. Leonhard zurechtgefunden. Zu sehen ist er allerdings nicht nur auf den Mannschaftsfotos der Feuerwehr, sondern sein Gesicht findet sich auch bei einem etwas schräg klingenden Verein namens Die Umgestülpten – Vince Luna wieder. Laut der Zeitung Volksbote vom 17.05.1923 wurde dieser Verein am Auffahrtstage 1898 vom Arzt Dr. Eduard Neurauter, genannt „Zeus“, gegründet. Es ist die ’Vince Luna’ oder Gesellschaft der ’Umgestülpten’, ein Verein, der fröhliche Geselligkeit mit Gesang und Gemütlichkeit pflegt, so liest man im Artikel. Die Mitglieder dieses Vereins waren allesamt im Dorf angesehene Bürger und Beamte mit Rang und Namen. Welche Aufnahmebedingungen dieser Verein hatte, geht nirgends hervor.
Dass der Franz Teil dieser Gruppe war, wundert nicht, denn die „Plonerer“ sind allgemein sehr gesellige Menschen, so sagt man. Jedenfalls steht fest, dass in der Stammtischgesellschaft gerne Ausflüge und gesellige Abende verbracht wurden, so beschreibt es auch Bergrevierinspektor Hans Wallnöfer (1881–1949) in seinen Erzählungen. Im Jahr 1928 wurde der Verein der Umgestülpten aufgelöst. Grund dafür könnten Unstimmigkeiten mit den italienischen Behörden gewesen sein.
Die letzten Fotos von und mit Franz. Im Bilderarchiv befinden sich nach dieser Zeit immer weniger Fotos, die auf den Fotografen Franz Ploner hindeuten. Eigentlich sollte er mit knapp 30 Jahren die Blütezeit seines Lebens erreicht haben, doch ich vermute, dass er nicht so gerne einer Arbeit nachgegangen ist, sondern sich lieber unter die Menschen mischte. Vielleicht hat er sich an kriminellen Machenschaften beteiligt, wie Schmuggel oder ähnlichem, was zu dieser Zeit durchaus üblich war, und musste deshalb untertauchen? Vielleicht hat er in seinem Laden nicht nur Südfrüchte und Kurzwaren verkauft, sondern auch Schmugglerware? Der letzte Hinweis, dass es sein Geschäft beim Strobl gab, ist ein Artikel im Volksbote vom 4. März 1920, in dem berichtet wird, dass in seinem Laden gewaltsam eingebrochen wurde und mehr als 500 Lire gestohlen wurden. Auch existiert eine Gewerbeliste von 1921, in der das Geschäft als Landesproduktenhandlung angeführt wird.
Das Foto zeigt Franz Mitte der 1920er Jahre auf einer Kutsche talauswärts bei der Gerlosbrücke vor dem Reinstadlhof, den seine Schwägerin Theresia Egger 1925 erbt. Das Plonerhaus, wie es auch genannt wird, brennt 1956 vollkommen nieder. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Die Spuren verlieren sich. Neben ein paar Familienfotos Ende der 20er Jahre und Fotos mit einem Stempel mit dem Namen von Franz auf der Rückseite gibt es keine Spur mehr zu seinem Verbleib von ihm im Passeiertal. Im Jahr 1936 stirbt die Schwester Anna. Im selben Jahr wird der Name Ploner im Zuge der Italienisierung in Pioneri geändert, so geht es aus dem Eintrag des Bruders Alois im Taufbuch hervor. Dessen Sohn Albert (Neffe von Franz) wurde 1939 Mitglied der Faschistischen Jugend und erst 1944 wird der Name wieder in Ploner zurück geändert.
In der Zwischenzeit muss sich Franz für die „Option“ ins Deutsche Reich auszuwandern entschieden haben. Wohin der Weg ihn geführt hat, ist nicht bekannt, ebenso wenig ob Franz wieder in die Heimat zurückgekehrt ist. Verwandte wissen zu berichten, dass Franz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Umgebung von Innsbruck gelebt haben soll. 1950 stirbt die Mutter. Fotos von der Beerdigung gibt es leider nicht. Mit dem Brand beim Reinstadlhof vulgo Plonerhaus sind wohl auch einige Fotos und Erinnerungen in Flammen aufgegangen.
Der letzte datierte Befund, dass sich Franz im Passeiertal aufhält, ist ein Schreiben des Inhabers des Gasthauses Leiteben (heute verlassen und verfallen) unterhalb der Jaufenalm von 1927, in dem es um eine Fotobestellung geht: Guter Freund! habe heute im meinem Schreibsachen alte Fotografien gefunden bräuchte des halb die bestellten nicht zu machen die Aufnahmen werde ich wergieten Mit Grus Plangger Cass. Leiteben. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Von Franz Ploner bleibt die Erinnerung an einen mysteriösen großen Mann, der mit seinen Fotografien doch nicht so einfach aus unserer Talgeschichte vergessen werden kann.
Die Geschichte sollte hier eigentlich noch nicht zu Ende sein.
Wer Hinweise zu Franz Ploner und seiner Familie hat, mag sie uns bitte weitergeben.
UPDATES:
7. Juni 2023: Franz Ploner ist in Innsbruck im Ostfriedhof im Stadtteil Pradl begraben. Als Todesdatum ist der 24. Jänner 1970 angegeben, sein Grab Nr. 66 befand sich in Grabfeld 61, es ist nicht mehr erhalten. In den Adressbüchern von Innsbruck findet sich 1964 und 1970 ein Franz Ploner als Pensionist mit Wohnsitz in der Dorfgasse 7.
Liegengebliebenes
Die Geschichte von Berta Ebner, die mehr einstecken musste, als eine Bombe an ihrem Lebensende.
Die Geschichte von Berta Ebner, die mehr einzustecken hatte, als eine Bombe an ihrem Lebensende.
Von Judith Schwarz
Die Tage nach Neujahr sind eigentlich Tage für Liegengebliebenes. Früher galt nämlich: Man kann sich “zwischen den Jahren” bis Dreikönig Zeit lassen für Dinge, die man im alten Jahr erledigen wollte. Für diesen Blogartikel über Berta Ebner, den ich vorhatte 2022 zu schreiben, ist der Zug also noch nicht abgefahren. Stay tuned!, sag ich mir seit Silvester, diese liegengebliebenen Zeilen dürfen getrost jetzt erst erscheinen.
Es begann im nunmehr vorjährigen Sommer. Ich hörte von der Historikerin Monika Mader zum ersten Mal von “Le strage di Bologna”, dem Anschlag von 1980 am Zugbahnhof von Bologna. In einem abgestellten Koffer im Wartesaal war eine Zeitbombe explodiert. Und ich hörte zum ersten Mal, dass auch eine ledige Passeirerin an jenem 2. August um 10:25 Uhr auf einen Zug gewartet hatte. Um inmitten der Explosion, die vermutlich Neofaschisten zu verantworten hatten, zu sterben.
Sollte ich über diese Frau schreiben? Berta Ebner war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ihr Leben möglicherweise bis zu jenem 2. August 1980 friedlich und unauffällig verlaufen. Ihre Eltern und Geschwister nicht mehr am Leben, ihr Nachlass nach über 40 Jahren höchstwahrscheinlich verschollen.
Trotzdem begann ich zu suchen: Warum war Berta Ebner, die Tochter des Gemeindearztes von St. Leonhard, an jenem Tag in Bologna gewesen? Wer war diese Arztfamilie, die in einer Jugendstil-Villa im Dorf gelebt hatte? Können sich die älteren Passeirer*innen noch an die “explodierte” Arzttochter erinnern?
Berta Ebner war so unauffällig, dass es auffällig ist. In den Zeitungsberichten zum Bomben-Attentat finden sich immer wieder dieselben Informationen: Die Verstorbene aus St. Leonhard in Passeier war 50 Jahre alt, ledig, Hausfrau, führte ein zurückgezogenes Leben, pflegte ihre 84-jährige Mutter, war zufällig auf Italienreise gewesen. Ihr Passfoto taucht auf einigen Websites auf, welche die Erinnerung an die 85 Todesopfer des Anschlages wachhalten wollen und dazu jährlich am 2. August Gedenk-Aktionen starten.
Um zu erinnern, muss man wissen. Je weniger Kenntnis wir über Berta Ebner haben, umso schneller wird ihr Leben ein leeres Blatt Papier werden. Das Schwarz-Weiß-Foto von Berta bunt zu bemalen und in einem weiß gestrichenen Koffer von Bologna nach Passeier zu schicken, wird das nur bedingt verhindern. So dachte ich, als ich im Sommer von der jüngsten Erinnerungs-Aktion “A destino” hörte. Nun, ein halbes Jahr später, zeigt sich: Der symbolische Koffer hat nicht nur still vor sich hin gemahnt. Er ist zum Auslöser geworden, um weitere Spuren zu Berta Ebner zu suchen.
Wo sucht man am besten nach Ebners? Natürlich in Zeitungen. Und tatsächlich taucht Berta Ebner bereits vor ihrem tragischen Tod in Bologna 1980 in einem Bericht in den Dolomiten auf, nämlich 1958 in Sorrent bei Neapel. Als 28-jährige Frau hatte sie dort – aus welchen Gründen auch immer – ihr Gedächtnis verloren! Laut Zeitungsnachricht war sie verwirrt, aber unverletzt – und man fand weder bei der Polizei noch im Krankenhaus Näheres heraus: “Mutter und Schwester kamen nach Neapel, doch konnte sich Berta Ebner an sie nicht ‘erinnern’ und auch jegliches Zureden war umsonst. Sie tat, als ob Mutter und Schwester ihr vollkommen unbekannte Leute wären.” Also “[…] kehrten Mutter und Schwester mit Berta nach Sankt Leonhard zurück und die Aerzte hoffen, daß das arme Mädchen in ihrer gewohnten Umgebung die Erinnerungsgabe wieder erhalten werde.”
Ein ruhiges und unauffälliges Leben? Davon bekommt man keine Amnesie. Eher von traumatischen Erlebnissen, von Unfällen, Stress oder Schock. Wir wissen nicht, ob oder wann Bertas Erinnerungen zurückgekehrt sind. Oder wie in der Passeirer Arztfamilie mit dem Gedächtnisverlust umgegangen wurde. Und vor allem was ihn ausgelöst hat. Auch wenn der Zeitungsbericht dazu schweigt, in einem Dorf wird immer geredet. “Berta hat studiert gehabt und hatte irgendwann ein Kind, das haben ihr die Eltern aber genommen, weil es ein “Italienerkind” war. Man hat nie gehört, ob Mädchen oder Bub und wo das Kind überhaupt ist", erzählen ehemalige Nachbarn der Ebners.
Möglich wär es schon. Dass Bertas Amnesie in Süditalien eine Schockreaktion auf ein Ereignis war, das mit ihrer Schwangerschaft oder mit der Wegnahme ihres Babys zu tun hatte. Für die Einheimischen ist klar: “Man hat ihr das Kind genommen, und dann ist die Berta übergeschnappt. Da hat es dann Probleme gegeben, dass sie zum Beispiel im Unterrock umhergegangen ist und so.”
Umgekehrt wäre es auch denkbar. Zumindest solange wir keine Angaben zum Geburtsdatum des Kindes haben (im Grunde haben wir nicht mal gesicherte Angaben zur Existenz des Kindes). Was, wenn Berta erst in Folge ihres Blackouts “Probleme” gemacht hat und eines dieser Probleme die Schwangerschaft war? Die Geburt des Kindes, irgendwo auswärts, soll in den 60er Jahren gewesen sein, als Berta rund 30 Jahre alt war, glauben Leute im Dorf zu wissen. Ganz genau können sie ihre Erinnerungen allerdings auch nicht abrufen.
Also vielleicht doch Nachkommen! Das (vermutete) Kind könnte heute zwischen 60 Jahre alt und älter sein und irgendwo in Italien leben. Berta soll gerne Italienreisen unternommen haben, wird in den Zeitungsberichten zu ihrem Tod betont. Was, wenn diese Reisen in irgendeiner Weise mit ihrem Kind zusammenhingen? Was, wenn das “Italienerkind” der Grund gewesen ist, warum Berta am 2. August 1980 am Bahnhof in Bologna auf einen Zug gewartet hat?
Im Dorf wurde gemunkelt. “Die Leute haben immer spekuliert, dass Bertas Bruder das Kind nach Deutschland mitgenommen hat”. Aber Bertas älterer Bruder Romed (1923–2011), zum Zeitpunkt der Amnesie bereits Arzt wie sein Vater, heiratete eine Biologin und gründete vor seinem Tod eine Stiftung zur Unterstützung von Medizinstudent*innen, in die sein Vermögen floss. Von einem Kind keine Spur. Bertas jüngere Schwester Elisabeth (1933–2015) hingegen war ab 1962 verheiratet, mit einem Arzt, und hatte einen Sohn.
Und Berta als Jugendliche? Sie scheint bereits als junge Frau gegen Korsette rebelliert zu haben. Über ihre Zeit als Studentin (wahrscheinlich der Pharmazie) und das Maturajahr 1949 am wissenschaftlichen Lyzeum in Brixen ist wenig bekannt. Mit 13 Jahren war sie jedoch im 360km entfernten Bregenz in Österreich im Internat untergebracht. Die dortige staatliche Oberschule für Mädchen und das Schülerinnenheim “Marienberg” liegen in der Nähe von Heimertingen, der Heimatstadt ihrer Mutter Berta Ebner geb. Schneider (1895–1980). Berta schreibt pampige Briefe über ihre Mitschülerinnen (“zwiedere Pfotten”) und das Essen (“Fetter kann man hier auch nicht werden”). Die Internatsleitung klagt, Berta sei nicht willens, sich einzufügen.
Ein lebensfrohes Kind, wie es alle anderen sind. Das solle mit ihrer Hilfe aus Berta werden, sendet die Heimleiterin nach Passeier und fügt – wir haben das Jahr 1943 – “Heil Hitler!” hinzu. Eine schwierige Aufgabe, da Berta stets als “sehr verschlossen” beschrieben wird. Vielleicht hatte sie es bereits in ihrer Grundschulzeit in St. Leonhard schwer, Anschluss zu finden – als bürgerliche Tochter eines Arztes und einer Reichsdeutschen. Bertas Lebensfreude zu wecken scheint dem Bregenzer Internat jedenfalls nicht gelungen zu sein: Berta wechselt die Schule und schließt das Schuljahr 1943/44 an der Mädchenoberschule St. Christina in Gröden ab. Im Jahreszeugnis ist zu lesen: Verschließt sich scheu den Kameradinnen.
Bertas Distanziertheit hat vielleicht auch andere Gründe. Berta ist nämlich nicht die erste Berta, sondern die zweite. 1921 bekommen Berta Schneider und ihr Gatte Romedius Ebner ihr erstes Töchterchen Berta, zwei Jahre später den schon erwähnten Sohn Romed. Am 12. Mai 1929 feiert das achtjährige Mädchen ihre Heilige Erstkommunion, zwei Tage später stirbt sie plötzlich. “Die Berta hat auf dem Bichl oben Wasser getrunken. Und man hat immer gesagt, sie hat eine ‘Iifer’ (Fadenwurm) getrunken und ist daran gestorben. Das ist sehr schnell gegangen.” Für eine Familie, die einen Arzt im Haus hat, ist dieser Tod doppelt schwer zu schlucken. Knappe neun Monate später kommt Berta auf die Welt.
Ein 8-jähriges Kind plötzlich zu verlieren bedeutet Familienkrise. Zumal in einem bürgerlichen, konservativen Kreis, in dem man bedrückende Lebensumstände lieber unter den Teppich kehrt, als unglücklich aufzufallen. “Die Frau Doktor hat viel gefragt, aber umgekehrt hat man über sie nie etwas erfahren.” Nichtsdestotrotz, dass die “alte Ebnerin” ihren Mann und Passeier hat verlassen wollen, weiß man sich in St. Leonhard heute noch zu erzählen. Und auch, wie sie beim Ausbrechenwollen blamiert zurückruderte, als ihr Mann beim Kofferpacken half. Berta erlebt eine Mutter, die im Tal wenig beliebt und unglücklich ist. Die Frau Doktor, die hochdeutsch gesprochen hat, galt als geizig, pingelig und äußerst streng. War andererseits aber selbst in einem gestrengen, abgehobenen Milieu gefangen.
Ein Leben mit ihren Eltern. Als der Bruder als Arzt Karriere in Deutschland macht und die Schwester einen Arzt heiratet und fortzieht, bleibt Berta der Part der ledigen Tochter, die sich um die alternden Eltern kümmert. Vielleicht waren ihre Italienreisen auch eine Flucht vor dem Leben im Elternhaus in St. Leonhard?
Mutter und Tochter leben sehr zurückgezogen. Erst recht nachdem 1967 Bertas Vater 81-jährig verstorben ist. Als dann im August 1980 Berta in Bologna ums Leben kommt und wenige Monate später ihre Mutter an Herzinfarkt und Lungenentzündung stirbt, bleibt das Bürgerhaus der Ebners am westlichen Ortrand von St. Leonhard leer zurück. Vier Jahrzehnte und einen Besitzerwechsel mit Renovierungsplänen später steht es nun vor dem Abriss. Im November 2022 machten Monika Mader und ich einen Hausbesuch. Und fanden in der Doktorvilla so etwas wie Berta Ebners Chance, nicht vergessen zu werden.
Von wegen verschollener Nachlass! Unmengen von Schulheften, Studiennotizen, Unibüchern. Gemälde von unbekannten Vorfahren. Zu Paketen geschnürte Briefe. Kisten voller Fotos von Urlaubsreisen. Spielsachen der verstorbenen Schwester. Arztbesteck. Praxisschilder. Traueranzeigen. Zeugnisse. Ein Röntgenbild. Ein Herbarium. Ein Kinderbett. Bertas Geschwister Romed und Liesl hatten wohl keine Verwendung für die Habseligkeiten. So sind sie über eine Zeit von über 40 Jahren liegen geblieben.
Das Liegengebliebene seinerseits wird seine Zeit brauchen. Um gesichtet, erkannt oder verkannt zu werden. Um geordnet oder durcheinander gebracht zu werden. Oder um liegen zu bleiben. Stay tuned!
Du hast weitere Informationen oder Quellen zu Berta Ebner und ihrer Familie?
Bitte lass sie nicht liegen, sondern schick sie uns oder erzähl uns davon!
Kein Märchen
Wie Passeier zu seinem Herrn Holle kam.
Wie Passeier zu seinem Herrn Holle kam.
Von Judith Schwarz
Kürzlich stolperte ich über ein Wort, von dem ich nicht wusste, dass ich es brauchen würde: Serendipität. Es benennt das zufällige, glückliche Entdecken von Objekten oder Informationen, ohne dass man gezielt nach ihnen gesucht hätte. Kurz zuvor hatte ich im Taufbuch von St. Martin die Geburtsdaten eines Herrn Gamper gesucht. Als meine Augen bei einem Herrn Holle hängen blieben.
Wer zur Hölle war dieser Holle?
Und wie kam er ins Passeier? Die Angaben zu ihm lauten: Am 15. Dezember 1880 in Meran geboren, am 23. März 1881 in St. Martin in Passeier auf den Namen Karl getauft, Mutter Sophie Holle, Schauspielerin in Stuttgart, Wohnort Außerhochwies. Hollewind! Hatte es da etwa eine märchenhafte Romanze zwischen einer Schauspielerin und einem Passeirer gegeben?
Damit war Herr Gamper vergessen, der Serendipität und meiner Neugier sei Dank. Gampers hat schließlich jedes Südtiroler Tal, eine Frau Holle mit Sohn hingegen nicht. Wie kommt eine Stuttgarter Schauspielerin mit ihrem Neugeborenen nach Außerhochwies in St. Martin? Blieben sie und ihr Sohn im Passeier? Und warum tauft sie ihn erst nach über drei Monaten, wo man früher doch sozusagen “ums Verrecken” am selben Tag die Taufe vollzogen haben wollte?
Holles Taufe hatte tatsächlich weniger mit der Geburt, als mit dem Tod zu tun. Dies lässt sich aus dem Vermerk „baptizatus morte proximum“ herauslesen: Der Säugling lag im Sterben. Waren also die Geburt im Dezember, das etwaige Gerede der Leute und die Angst vor einem sogenannten “Heiden” im Haus nicht Gründe genug für eine schnelle Taufe? Und erst der nahende Tod durch Krankheit oder Unglücksfall veranlasste die Mutter, das drei Monate alte Kind zu einem Priester zu bringen?
Und der Kindsvater? Ärgerlicherweise fehlen Angaben zur Entbindung in Meran oder zur Hebamme. Und natürlich auch die Angaben zum Vater des Kindes, das den Nachnamen der Mutter trägt. Entweder weil der Pfarrer nicht nachgebohrt hat oder die Mutter nichts dazu sagen wollte. Und die Suche nach Karl Holle in Merans Taufbüchern hätte ich mir sparen können, denn das Kind wurde dort ja nicht getauft. Tja, schön blöd von mir, da lob ich mir meine Funde nach dem Prinzip der Serendipität!
Springen wir zurück in die Zeit, als es noch keine Privacy-Bestimmungen gab. Als die Namen der ankommenden Reisenden sogar in Zeitungen veröffentlicht werden konnten. So listet die Meraner Zeitung unter “Angekommene Fremde zwischen 1. und 5. Oktober” 1880 auf: Fräulein S. Holle, Stuttgart. Nun, sie war bei ihrer Anreise also bereits im vielleicht siebten oder achten Monat, denn rund vierzig Tage nach ihrer Ankunft hat sie die Niederkunft. Ein Passeirer als Vater fällt damit also wohl flach. Kam das hochschwangere Fräulein Holle vielleicht zum Entbinden in die Kurstadt? Oder doch auch zum Schauspielen?
Was treibt Fräulein Holle in Meran? Einige Ausgaben später schreibt dieselbe Zeitung, dass Fräulein Holle im Lustspiel „Hasemanns Töchter“ von Adolph Arronge in der Rolle der Emilie Hasemann aufgetreten sei. Und Zufall oder nicht: Gelobt wird die von ihr gespielte Szene, in der es über die Erziehungsmethode eines noch ungeborenen Kindes geht. Ob sie die Sätze geglaubt hat, die sie auswendig zu lernen hatte: “Abhärten muss man es [das Kind] von früh auf durch kalte Abreibungen!” (2. Akt, 7. Szene)? Die Bühnenfigur Emilie jedenfalls ist im Stück nicht schwanger, Sophie Holles Babybauch also wohl auch nicht ein Grund für das Engagenment.
Die Holle schauspielert nicht nur, sie singt auch. So zum Beispiel Mitte November, also einen Monat vor der Entbindung, im Kurhaustheater eine Arie aus der Oper „Der Waffenschmied“ von Albert Lortzing. Am Wochenende drauf zwei Arien aus „Webers Freischütz“. Und Mitte Dezember, vier Tage vor der Geburt ihres Sohnes, in der Rolle der Rosa in der Ouvertüre Martha. Vergeblich sucht man in den Berichterstattungen der hiesigen Zeitungen jedoch einen Hinweis auf ihre wohl “ansehnliche” Schwangerschaft. Höchstens der Nebensatz Frl. Holle, welche sehr gut disponiert war ließe sich als Andeutung in diese Richtung lesen oder vielmehr wunschdenken. Falls der Kurtheaterverein von der bevorstehenden Geburt gewusst hätte, hätte sie überhaupt auftreten dürfen?
Könnte es sein, dass Fräulein Holle ihre Schwangerschaft verheimlicht hat? Laut Taufbuch von St. Martin brachte Sophie Holle am 15. Dezember 1880 in Meran einen Sohn zur Welt. Die Meraner Zeitung veröffentlicht am 20. Dezember, dass der Meraner Kaufmann Kosmas Wiedner die gewesene Schauspielerin (!) am 14. Dezember wegen Nichtbezahlung von 22 Gulden und 10 Kreuzer verklagt habe und ihr Aufenthaltsort zu diesem Zeitpunkt unbekannt sei. Laut Bozner Zeitung war Fräulein Holle untergetaucht, ohne der Direktion des Kurtheaters Meldung zu machen. Vor allem letztere Aussage machte keinen Sinn, wäre ihre Schwangerschaft und damit ihr voraussichtlicher Entbindunsgtermin bekannt gewesen.
Merans Gerüchteküche brodelt. Bis endlich ein Journalist der Bozner Zeitung Ende Dezember schreibt, dass Fräulein Holle seit einer Woche wieder in Meran weile und während ihrer Abwesenheit ein Konzert in Brixen oder Innsbruck arrangiert habe, also jegliche Gerüchte über ihr plötzliches Verschwinden beste Widerlegung gefunden hätten. Die Meraner Zeitung hingegen weiß am Neujahrtag 1881, dass Sophie Holle beabsichtige aus dem Kurtheaterverein von Meran auszusteigen und mit einem auswärtigen Sänger und mehreren Einheimischen in der ersten Januarhälfte ein Konzert im Kurhaus geben werde. Man lese und staune.
Es kommt, wie es kommen muss. Oder wie es vielleicht geplant gewesen war? Das Konzert, das für den 19. Jänner 1881 angekündigt worden war, wird am Tag der Aufführung ohne Angabe von Gründen abgesagt. Danach wird es still in der Berichterstattung um Sophie Holle, die Presse scheint sich nicht mehr für sie zu interessieren – oder der Bühnenstar ihnen nichts mehr zu bieten. Dann im März dieser ominöse Eintrag im Martiner Taufbuch: Lebte sie zu dem Zeitpunkt auf Außerhochwies? Oder hatte sie etwa den Sohn zur Pflege dorthin gegeben und war selbst in Meran geblieben? Es war damals nicht unüblich, dass man in Passeier gegen ein Entgeld Kinder großzog.
Also eine Taufe ohne das Wissen der Mutter? Auch das wäre möglich. Ebenso, dass die Stuttgarterin Holle evangelisch war. Sollte sie also bei der Taufe nicht anwesend gewesen sein, dann stammten die Angaben bzw. auch die Nicht-Angaben wohl von der angegebenen Taufpatin Barbara Kofler. Das kleine Gütl Außerhochwies östlich von St. Martin (heute Josefsberg, Kammerveiterstraße 37/38) war seit 1872 im Besitz des Webers Jakob Pöhl und seiner Ehefrau Maria Kofler, Barbara Kofler also vielleicht deren Mutter oder Schwester. Und eventuell jene Frau, der Sophie Holle ihr Kind und dessen (richtige oder falsche) Geburtsdaten anvertraute.
Je mehr Antworten man sucht, umso mehr Fragen findet man. Aber irgendwann tauchten auch ein paar neue Hinweise auf. So existiert im Staatsarchiv Ludwigsburg die Personalakte Sophie Holles für das Königliche Hoftheater Stuttgart. Sie war dort 1877 als Chorschülerin eingetreten, ihr Austritt datiert auf den 21. September 1879, also ein halbes Jahr bevor sie schwanger wurde. Ebenso erfährt man, dass sie die Tochter eines Damenschneiders war, unter Verdauungsproblemen in Folge von Anämie litt und sich bei Theaterproben schwer verletzte, als sie in eine Bühnenvertiefung stürzte. Über Gliederschmerzen in Folge des Sturzes klagte sie immer wieder, ebenso über Geldprobleme. Wann genau sie Stuttgart verlässt, warum und wie es sie nach Meran verschlägt, lässt sich aus der Personalakte nicht herauslesen.
Karl in Passeier, Sophie in Stuttgart. So wird die Realität ausgesehen haben. Im Herbst 1882 ist Sophie Holle nämlich wieder in Stuttgart: Sie bittet um Wiederaufnahme als Chorsängerin im Königlichen Hoftheater, da sie ihrer verstorbenen Mutter versprochen habe, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern und diese noch zu jung seien, um in die Welt hinaus geschickt zu werden. Das Ansuchen wird abgelehnt. Wir erfahren, dass sie weibliche Handarbeit macht, im elterlichen Kleidergeschäft aushilft soweit es ihre Gliederschmerzen erlauben und ab und an ein Konzert geben kann. Im Februar 1897 spielt sie wieder im Kurhaustheater in Meran in einem Volksstück mit, berichtet die Presse. Ihr Sohn Karl ist zu der Zeit 16 Jahre alt. Ob sie ihn in Passeier besucht hat?
Was wurde aus dem Sohn von Fräulein Holle? Über seine Kindheit erfahren wir nichts. Er wird Bauernknecht in Hinterpasseier – und damit quasi chancenlos, es wie seine Mutter in die Zeitungen zu schaffen. Möchte man meinen. Die Zeitungsnotiz, die ihm gewidmet wird, belehrt uns eines Besseren. Anfang des Jahres 1920 sterben nämlich in Moos in Passeier gar einige Menschen, so dass dies dem “Burggräfler” ein Artikel wert ist. Nach dem Zimmermann Josef Mader („der Zeit seines Lebens wohl 70 Menschen die letzte Behausung geliefert und sie darin einquartiert hat“) ist der vierzigjährig Verstorbene Karl Holle genannt. Er wird als “vulgo Holle Karl” beschrieben, sein Schreibname sei unbekannt, man spekuliert: vermutlich weil er keinen hatte.
Ein Passeirer mit demselben Namen wie die Wetterfrau im Grimm-Märchen von 1812 schien dem Journalisten wohl zu weit hergeholt. Die späte Erkenntnis, dass es diesen einen Passeirer doch gegeben hat, verdanken wir einem glücklichen Zufall, vulgo Serendipität.
Bildschön
Kennt ihr diesen Moment, wenn ein neues altes Gemälde auftaucht? Und ihr alles dazu herausfinden wollt?
Wenn plötzlich zwei alte Porträts auftauchen. Und mit ihnen viele neue Fragen.
Von Judith Schwarz
Es begann an einem Sonntag kurz vor 12 Uhr. Der Kunsthistoriker Hanns-Paul Ties schrieb eine E-Mail ans Museum: Hab gestern ein bisschen in der Südtiroler Kulturgüter-Datenbank geschmökert (…): Darunter sind zwei hübsche Porträts aus Moos. Der beigefügte Link führte zu einem gealterten Ehepaar auf zwei separaten Bildtafeln im Palais Mamming Museum in Meran. Die Qualität der Schwarz-Weiß-Fotos war steigerungsfähig. Aber die Notizen Porträt von einem M. Hofer und aus der Konkursmasse des Wirtes in Moos (Passeier) ließ erahnen, dass es sich um den Mooserwirt Michael Hofer und seine Gattin handeln würde.
Bildschön: Ein Ehepaar aus Moos lässt sich im 18. Jahrhundert porträtieren. Der erste Gedanke: Ein Porträt des berühmt-berüchtigten Michael Hofer (1696–1765), dem zu seiner Zeit reichsten Passeirer. War ja klar, dass irgendwann ein Bild von ihm auftauchen musste. Endlich würde man ihn sich „bildlich“ vorstellen können. Der zweite Gedanke: Bemerkenswert, seine Frau durfte auch verewigt werden. Damit muss es das älteste Porträt einer nichtadligen Passeirerin sein, älter als die Bildnisse der Sandwirtin Anna Ladurner. Und Gedanke Nummer drei war dann sozusagen die Vereinigung der beiden vorhergehenden: Ein frühes Bildnispaar von Passeirer Eheleuten, das hatten wir so auch noch nicht.
Ties und Teis: Wenn das kein Zufall ist. So jemand wie Michael Hofer, der durch männliche Schönheit und klugen Geist angeblich sogar Maria Theresia zu beeindrucken vermochte, war natürlich öfters verheiratet. Als Waise hatte er blutjung das Gasthaus Mooserwirt in Moos übernommen und geheiratet, sobald er volljährig war. Da seine erste Gattin nach vier Jahren Ehe starb, heiratete er – nach dreimonatiger Trauerzeit – Magdalena Teis, die dargestellte Frau auf dem Pendant zu Michael Hofers Porträt. Während wir aber, wenn wir wollten, zu Michael Hofer eine lange Liste an Geschäftsbeziehungen, Güterbesitz und Geldanhäufungen tippen könnten, war Magdalena Teis bislang „unsichtbar“. Der Fund von Hanns-Paul Ties forderte uns zur Beschäftigung mit der Teisin heraus.
Vor Magdalenas Geburt überkreuzen sich die Bande der Familien Teis und Hofer. Natürlich, in einem Tal wie Passeier wäre es seltsam, wenn es anders gewesen wäre. Magdalenas Vater und seine erste Gattin Ursula Meister scheinen in den 1680er Jahren als “Priewirt” bzw. Priewirthin” auf, führen also den Gasthof Brühwirt neben der Pfarrkirche in St. Leonhard. 1689 (er hat sich nach dem Tod seiner Frau ein weiteres Mal verheiratet) kauft Johann Teis die Brühwirtsbehausung und zwar von der Besitzerin Eva Auer bzw. deren Gatten, dem Mooserwirt Johann Hofer. Diese beiden werden sieben Jahre später die Eltern des porträtierten Michael Hofer, des Mooserwirtserben. Weitere sechs Jahre später, am 20. Juli 1702, kommt Magdalena auf die Welt. Allerdings (schade!) nicht im Brühwirt, dem ehemaligen Haus ihrer zukünftigen Schwiegermutter, denn die Teis sind mittlerweile weitergezogen.
Wohin führen die Spuren von Magdalenas Familie? Bereits 1692 ist Vater Johann Teis als cauponis in superioris von St. Martin genannt, womit das Gasthaus Oberwirt gemeint ist. Während der älteste Bruder von Magdalena also noch in St. Leonhard als Brühwirtssohn auf die Welt kommt, sind sie und ihre weiteren sieben Geschwister in St. Martin als Oberwirtskinder geboren. “Einmal Wirt, immer Wirt”, kommt einem da in den Sinn. Oder auch “Gleich und Gleich gesellt sich gern”, wenn wir an unsere porträtierten Eheleute denken: Oberwirtstochter von St. Martin heiratet Mooserwirtssohn von Moos. Zumal auch Magdalenas Mutter nicht von schlechten Eltern ist. Elisabeth Haller, die zweite Gattin des Johann Teis, ist die Tochter des Passeirer Richters Heinrich Haller aus St. Leonhard. Kurzum, Magdalena war wohl das, was man landläufig eine gute Partie nennt. Nichtsdestotrotz geben die offiziellen Geschichtsquellen nur wenig über sie her.
Leider passen Magdalenas Eckdaten in einen Absatz. Wir kennen ihr Hochzeitsdatum: Am 2. September 1721 heiraten Magdalena Teis und Michael Hofer in St. Leonhard. Wir erfahren in den Taufbüchern von den Geburten ihrer acht Kinder: Karl (1722), Maria (1724), Michael (1727), Johann (1732), Eva (1734), Helena (1737), Anton (1739) und Simon (1741).
Und natürlich erfahren wir auch vom Tod ihres Mannes: Michael Hofer stirbt 1765 nach 44 Jahren Ehe, finanziell sind Magdalena und ihre erwachsenen Kinder gut versorgt. Zehn Jahre nach dem Tod von Michael Hofer stirbt Magdalena im Alter von 73 Jahren und wird am 15. November 1775 als ehrenwerte Witwe in Moos zu Grabe getragen.
Die Mooserwirtsleute im Porträt. Höchste Zeit, uns den beiden Ölgemälden zuzuwenden. Was wir bislang wissen, vermuten und noch herausfinden möchten:
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Wahrscheinlich nicht. Auf dem Bild fehlen die typischen Attribute wie Ring oder Blumen. Auch ist Magdalena Teis, die 19-jährig heiratete, eindeutig zu alt dargestellt. Ungewöhnlich ist die Rechts-Links-Anordnung. In der Regel befindet sich die Ehefrau zur Linken des Mannes, das heißt, sie wird normalerweise auf der rechten Bildtafel platziert. Aber anders als bei klassischen Ehepaarbildnissen ist Michael Hofer auf der “Frauenseite”, also auf dem rechten Bild, platziert. Magdalena Teis ist damit auf der hierarchisch höherstehenden Seite dargestellt. Ob man in diese Abweichung des Rechts-Links-Schemas etwas hineininterpretieren darf oder soll, sei dahingestellt.
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Die Hinweise auf den Buchrücken lauten:
BA(…)M.
LANDS.ORD:/NUNG.
BARTHOL:/UM.
GAIL
Perneder
Arnold
Der Mooserwirt wollte also wohl als Leser der Tiroler Landesordnung und der Werke einiger berühmter Rechtsgelehrter angesehen werden. Hanns-Paul Ties gibt für die “Bibliothek” folgende Identifikationsvorschläge: Es könnte sich bei den Autoren um den Rechtsgelehrten Bartolus de Saxoferrato (um 1313-1357), den Kölner Kanzler Andreas von Gail (1526-1587) und den bayerischen Juristen Andreas Perneder (um 1500-1543) handeln, als “Arnold” kommen hauptsächlich Laurentius Arnold, ein schlesischer Jurist des frühen 17. Jahrhunderts, und Georg d’Arnaud (1711-1740), ein niederländischer Professor Juris, in Frage.Ob die Bücher tatsächlich im Mooserwirtshaus existiert haben, wäre eine andere Recherche. Falls ja, stellte sich die Frage: Wie kam ein Passeirer Wirt des 17. Jahrhunderts an eine rechtswissenschaftliche „Bibliothek“? Ein naheliegender Gedanke könnte sein: Über den Großvater mütterlichseits von Magdalena Teis, den Passeirer Richter Heinrich Haller.
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Beda Weber schrieb 1852: Noch jetzt ist das Andenken an diese Wirthshausherrlichkeit in den Passeirern nicht ausgestorben. Michael Hofer saß mit freundlicher Umsicht mitten im Korn. Der Zoll in St. Martin war sein Pacht von der Landesregierung zu mäßigem Preise. Auch wenn nicht ganz klar ist, ob Beda Weber „mitten im Korn“ wörtlich oder sprichwörtlich verwendete: Die Darstellung von Waage und Getreideähre würde sich sehr gut als Andeutung auf Michael Hofers Geschäftstätigkeit eignen. Es war allerdings wiederum Hanns-Paul Ties, der einen weiteren interessanten Gedanken einbrachte: Nämlich den Hinweis auf die Waage als das klassische Gerechtigkeitssymbol schlechthin, was wiederum zur dargestellten juristischen Bibliothek von Michael Hofer passen könnte.
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Schlüssel in Frauenhänden verweisen in der Regel auf deren Rolle als Hausherrin/Hauswirtin. Während also die Gegenstände von Michael Hofer betonen, dass sich seine Tätigkeiten vor allem nach außen richten, erzählt der Schlüssel in Magdalenas Händen, dass sie die Kontrolle über das Wohnhaus/ Wirtshaus hat. Da die Textzeilen im offenen Buch nicht lesbar sind, kann es sich um ein Gebetbuch oder auch ein „Wirtschaftsbuch“ von Magdalena handeln.
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Auf Michael Hofers Jacke erkennt man einen Anhänger mit einer stehenden Figur, die in ihrer linken Hand ein Kreuz emporzuheben scheint. Hanns-Paul Ties denkt an den „Wasserheiligen“ Johannes Nepomuk, der 1729 heiliggesprochen wurde.
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Grob gerechnet müssen die Bilder im Zeitraum zwischen der Hochzeit 1721 und dem Tod von Michael Hofer 1765 entstanden sein. Da Magdalena nicht gerade als junge Frau dargestellt ist, wird es sich um die 1750er bzw. 1760er Jahre handeln.
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Beide Bilder sind unsigniert und damit beginnt das Rätseln über die Zuschreibung. Es liegt nahe, dass der Auftrag an ein Mitglied der Passeirer Malerfamilie Auer gegangen ist. Die Auer malten in drei Generationen im sogenannten Malerhaus in St. Martin in Passeier, allerdings sind keine autonomen Porträts aus ihren Händen bekannt. Speziell Johann Benedikt Auer (1722–1792) soll – nach Beda Weber – in Innsbruck die Bildnismalerei erlernt und in Trient, Verona und Venedig als Porträtmaler gearbeitet haben, bevor er 1751 wieder nach Südtirol zurückgekehrt ist. Um 1753 hat er sich erneut in St. Martin niedergelassen und die väterliche Werkstatt übernommen. Sollten die Bilder in den 1750er Jahren entstanden sein, wären die beiden Eheleute demnach rund 50 bis 60 Jahre alt gewesen. So gut es zeitlich und geografisch auch passen mag: Hanns-Paul Ties, der Experte in punkto Passeirer Malerschule, meint: Stilkritisch lässt sich eine Zuschreibung der Gemälde an ein Mitglied der Malerfamilie Auer nicht wirklich begründen, ausschließen aber auch nicht.
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Beide Bilder wurden im Jänner 1910 vom damaligen „Städtischen Museum von Meran“ um 60 Kronen angekauft, laut Einkaufsregister des Museumsgründers Dr. Franz Innerhofer (1847–1918) „aus der Konkursmasse des Wirtes in Moos“.
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Nicht minder bekannt wie dazumal der renommierte Mooserwirt des 18. Jahrhunderts, ist heute der ehemalige Mooserwirt des 21. Jahrhunderts. Harald Haller, der zwischen 2003 und 2019 das Gasthaus gekauft, erforscht, renoviert, geführt, verpachtet und verkauft hat, gab mir den Tipp: Im Lesebuch Ötztaler Alpen (Haid Hans, 2002, S. 152ff) gibt es einen Bericht eines Reisenden, der ein Gemälde beim Mooserwirt erwähnt. Und tatsächlich: Der Reisende, der im Sommer 1867 auf dem unebenen Raume in und um Moos herumkletterte, war Anton von Ruthner. Beim Mooserwirt war ihm ein gut gemaltes Porträt eines decorirten Mannes in schwarzer Amtstracht nach der Mode der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgefallen, was er in seinem Bericht Aus Tirol. Berg- und Gletscher-Reisen in den österreichischen Hochalpen (1869, Seite 352) auch vermerkte. Auch wenn es sich nicht um unser Porträt mit dem grünbejackten Michael Hofer handeln kann (und kein dazugehörendes Frauenporträt erwähnt ist), sind die weiteren Zeilen des Autors interessant: Auf mein Befragen, wer dies sei, meinte nämlich der Wirth, einer seiner unmittelbaren Vorfahren, und verbesserte meine Bemerkung, dass dies dem Schnitte der Kleidung nach sein Urgrossvater sein müsse, dahin, dass es der Vater seines Urgrossvaters sei. So bewahrt sich denn hier in einer schlichten Bauernfamilie der Nachweis, wer die Voreltern waren, dieses vermeintliche Vorrecht des hohen Adels, […] länger als gewöhnlich. Der Wirt, mit dem Anton von Ruthner gesprochen hat, muss Josef Hofer gewesen sein, dessen Vater, Großvater und Urgroßvater Johann hießen, und dessen Ururgroßvater Michael Hofer war. Sofern die Aussagen von Ruthner und Hofer von 1867 stimmen, sollte es also noch ein weiteres Porträt von Michael Hofer geben/gegeben haben.
Was es ebenfalls geben wird: Die einen oder anderen Hinweise, Geschichten und Fehler zu den beschriebenen Personen und Porträts.
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